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Kultur: Sprache ist auch nur ein Wohnsitz

Noch die "autobiographischen Schriften", die vom Piper-Verlag anlässlich ihres 80. Geburtstags präsentiert wurden, verzeichnen ein falsches Geburtsjahr.

Noch die "autobiographischen Schriften", die vom Piper-Verlag anlässlich ihres 80. Geburtstags präsentiert wurden, verzeichnen ein falsches Geburtsjahr. Ihr früherer Verleger, erzählt die alte Dame augenzwinkernd, sei 1959, als ihr Gedichtband "Nur eine Rose als Stütze" erscheinen sollte, nämlich der Meinung gewesen, eine fünfzigjährige Frau könne nicht ihr erstes Buch veröffentlichen. Also habe er sie kurzerhand drei Jahre jünger gemacht, und so wurde noch die Dreiundachtzigjährige 1992 im deutschen Feuilleton als runde Jubilarin gefeiert.

Dass auch eine Frau von über neunzig noch schreiben und zum "hohen Sprung" ansetzen kann, bewies die Lyrikerin Hilde Domin in der Matinee am Deutschen Theater, die die Berlin-Brandenburgischen Buchwochen eröffnete. Unter dem Motto "Salto Vitale" veranstaltet der Verband der Buchhandlungen und Verlage bis zum 20. November ein Lesemarathon, das Autoren und Autorinnen aus der Region mit ihrem Publikum in Berlin und rund zwanzig Städten Brandenburgs zusammenführen soll. Für die Erweiterung des literarischen Horizonts sorgen Lesungen mit britischen und Schweizer Schriftstellern, die durch die erstmalige Zusammenarbeit mit dem British Council und Pro Helvetia ermöglicht wurden.

Eine immens lustvolle und gleichzeitig nachdenkliche Begegnung mit der deutschen Sprache bescherte Domin ihren Zuhörern. Den "grossen Sprung" wagte die promovierte Juristin und Jüdin nicht etwa, als sie 1932 zusammen mit ihrem Mann, dem Kunsthistoriker Erwin Palm, nach Rom auswanderte. Der "grosse Sprung" war vielmehr die Rückkehr. Nach langen Jahre in Santo Domingo ging Hilde Domin 1954 wieder "in Europa an Land" mit dem Wissen: "Gewöhn dich nicht, du riechst nicht nach Bleiben." Die kindliche Freude der Fünzigjährigen über ihren ersten Briefkastenschlüssel spiegelt das prekäre Wohngefühl aller Exilierten, für die die Lyrikerin bis heute das Wort ergreift: "Heute heissen sie eben Asylanten", warf die agile Dame kampflustig ins Publikum und forderte "Zivilcourage".

Der einzige Wohnsitz, so Domin, sei das deutsche Wort, nur deshalb "fuhr ich wieder über das Meer dahin, wo das Wort lebt." Wie andere in den Beichtstuhl oder auf die Couch des Psychiaters habe sie sich in die deutsche Sprache gerettet, ins Schreiben, das war "eine Befreiung" und "eine Gnade" wies sie selbstbewußt ihren Gesprächspartner Kiesel zurecht, der oberlehrerhaft über rhythmische Texturen dozierte. Mit dieser lustvollen "Freiheit, neue Worte bilden zu können" hielt sie die Zuhörerin Bann. "Mitschmerz", sagt sie, nicht "Mitleid", nicht von oben nach unten. Domin ist eine würdige Agentin des Wortes. Und sie ist eine der letzten Repräsentanten einer Geschichte, die, wie sie hofft, in ihren Gedichten überlebt: "Literatur ist der Vorratsschrank der Menschheit".

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