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Kultur: Stadt der blauen Herzen

Hoffnung für den deutschen Film: „Schläfer“ siegt beim Saarbrücker Max-Ophüls-Festival

Das Erkennungszeichen des Festivals ist ein blaues Herz. Ein sterbeblaues Herz, ein agonisches Herz? So eins, wie es der kleine Paul hat, erst sechs Jahre alt? Vielleicht sind Herzen gar nicht rot, sondern nachtsterbensblau. Nach diesem Festival des jungen deutsch(sprachig)en Kinos glaubt man, etwas davon zu wissen.

„Mondscheinkinder“. Manuela Stacke, Jahrgang 1970, hat dieses Anfänger-Wunderwerk von einem Film gemacht. Über Paul, für den immer später Nachmittag ist, denn er lebt in einer vollkommen abgedunkelten Wohnung. Nie von einem Sonnenstrahl berührt zu werden, ist die einzige Überlebenschance für den kleinen Jungen mit dem seltenen Hautkrebs. Aber welches Kind soll das verstehen? Das Weltall ist auch nachtblau. Vielleicht, sagt die Schwester ihrem Bruder, bist du von einem anderen Planeten auf die Erde gekommen. Deshalb kannst du nicht sein wie andere Kinder. Weil du nur zu Besuch bist, ein verirrter Raumschiffkapitän. Das versteht Paul schon besser ... Dieser Film ist ein Geiselnehmer. Er wirft uns mit der Gewalt eines Raketenstarts in den Kinosessel zurück und raubt für 90 Minuten jedes Recht auf emotionale und sonstige Selbstbestimmung.

Und wie unverfroren „Mondscheinkinder“ alle geltenden Tabus bricht, dicke Flokati-Klangteppiche unterlegt, wo doch jeder weiß, dass Klangteppiche das Allerletzte sind! Und ist er nicht melodramatischer als jedes Hollywood-Melodram? Ja, man möchte sich wehren, aber – alles stimmt. Nicht zuletzt dank Lucas Hardt als Paul und Leonie Krahl als Pauls Schwester, die ihrem Bruder das nachtblaue Raumfahrer-All erfindet. Und wir können mit Paul darin herumfahren, denn „Mondscheinkinder“ ist zugleich ein Animationsfilm. Und ein Abschlussfilm. Eine Diplomarbeit auf Zelluloid.

Diplomarbeiten sind oft nichts weiter als Arbeitsbefähigungsnachweise, die man später belächelt. Gesellenstücke. Und Saarbrücken ist im Grunde nur das Festival für die kinematografischen Gesellenstücke des Jahres. Aber was wir sehen, sind immer öfter Meisterstücke. Vielleicht stand es nie besser um die Zukunft des deutschen Films. „Mondscheinkinder“ bekam keinen Preis in Saarbrücken. Wahrscheinlich hatte die Jury des blauen Herzens, der unter anderem die Schauspielerin Christiane Paul und die Regisseurin Hermine Huntgeburth angehörten, etwas gegen emotionale Geiselnahmen. Dabei prämierte sie selbst einen Vorsicht-Geiselnehmer-Film. Der MaxOphüls-Preis ging an „Schläfer“, Regie: Benjamin Heisenberg, Kategorie grundsolides Gesellenstück.

Und doch wird man das Gefühl nicht los, dass hier zugleich das Thema ausgezeichnet wurde. Klassische IM-Situation: Ein Freund beobachtet in fremdem Auftrag (Verfassungsschutz!) den Freund. Der ist zwar kein Feind der Arbeiterklasse, aber dafür ist er aus Iran. Und an der Uni. Wie Mohammed Atta? Natürlich verweigert sich der Doktorand Johannes Merveldt der IM-Zumutung, denn er mag diesen Farid, aber dann schleicht sich Misstrauen ein.

Benjamin Heisenberg lotet tief in die Ozeangräben der Seele, die sich immer auftun, wenn es um die Lüge im Dienste einer höheren Wahrheit geht. Auch Merveldt (Gegentypus des Spitzels, großartig: Bastian Trost) hat bald ein agonisches Herz. Aber nicht nur Menschen missbrauchen Menschen. Meist ist das Leben selbst der Täter. Man muss es nur zeigen können. Wenn ein Vater mit seiner minderjährigen Tochter schläft, was ist das dann? Missbrauch des Vaters durch die Tochter?

Die siebzehnjährige Alma trifft ihren Vater wieder. Er hatte sie und ihre Mutter verlassen, als Alma noch ein Kind war. Und nun liebt sie diesen Mann, so wie das Kind einst den Vater liebte. Und doch ganz anders. Noch zwei sterbensblaue Herzen, klar. Tabus sind zwar dazu da, sie zu brechen, aber dieses eine Lot-und-seine-Töchter-Tabu sollten wir vielleicht übrig lassen.

Die besondere Tragik von „Liebeskind“ besteht darin, dass er so gut, so über-lebens-wahr ist, dass er seinen überaus tatsächlichen Schluss gar nicht mehr braucht. Trotzdem, noch ein Gesellen- als Meisterstück (Regie: Jeanette Wagner). Die junge Anna Fischer hat für ihre Alma den Darstellerpreis bekommen. Keine(r) hat ihn so sehr verdient wie sie, abgesehen von Leonie Krahl und Lucas Hardt aus „Mondscheinkinder“. Und von Bastian Trost und Mehdi Nebbou aus „Schläfer“. Und von Maximilian Waldmann aus „Unter der Sonne“ ... Ohne sie wären ganz andere Filme entstanden. Ohne sie, denkt man, wären diese Filme gar nicht entstanden.

Ist jeder ersetzbar? Aber doch nicht im Kino. Eigentlich ist das eine schöne Botschaft. Und wenn das Wort „Reife“ nicht wie ein Qualitätsetikett für überfälligen Käse klänge, würde man diesem Saarbrücken-Jahrgang gern dieses Attribut zusprechen. Nur hip und schräg ist hier nichts.

Blaue Herzen sah man übrigens überall in Saarbrücken, auch dank der neuen erfolgreichen Festivalchefin Birgit Johnson. Sie hat gleich die Blaues-Herz-Einzelhandelskampagne „Unser MaxOphüls-Preis“ angeregt, weshalb die Saarbrücker Oberbürgermeisterin erfreut ausrief: „Saarbrücken soll die Stadt der blauen Herzen sein!“ Ob sie weiß, was sie sich da wünscht? Auch die filmisch höchst aufregenden, leider unprämierten Hochspannungs-Versuchsanordnungen „Futschicato“ (Regie: Olav F. Wehling), „Unter der Sonne“ (Regie: Baran bo Odar) und „swinger club“ (Regie: Jan Georg Schütte) handeln von nichts anderem als von alltäglich geschäftstüchtigen Herzen, durch die ein plötzlicher tödlicher Riss geht. Mitten im banalsten Alltag.

Bemerkenswert ist, dass diese drei Filme alle in einem Format entstanden sind, das erstmals auf dem Filmfestival in Saarbrücken zugelassen war: „Digital auf Festplatte“ statt 35 Millimeter! Was für ein Name für das Kino der Zukunft.

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