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Kultur: Stadthirsch-Theater: Büchners Leonce, Kafkas K. und die Pfote des Hundes

Ade, Epoche des Pop! Wir machen einen Sprung zurück in einen Duodezstaat, wo sich Büchners Leonce und Kafkas K.

Ade, Epoche des Pop! Wir machen einen Sprung zurück in einen Duodezstaat, wo sich Büchners Leonce und Kafkas K. gute Nacht sagen, ein Ländle, so zierlich, dass der Fürst weder Düsenjet noch Helikopter braucht, es zu durchmessen, sondern nur eine Kutsche. Aber wird er sich aufraffen, sein Schloss zu verlassen? Ist er nicht zu alledem zu müde? Hat er nicht seine ganze Kraft nötig, sich zu behaupten zwischen dem alten Hofmeister und dem neuen Verwalter?

Es ist eine fein gedrechselte Beziehungskiste, der Jan Peter Bremer seine namenlosen Figuren entnimmt, um sie mit- und gegeneinander antreten zu lassen. Der alte Hofmeister buhlt um den neuen Verwalter, der neue Verwalter wirbt um das Wohlwollen des Landesherrn, der Fürst aber schwankt zwischen Argwohn und dem Bedürfnis nach Freundschaft, ja Liebe: "Der Mensch", vertraut er dem Hofmeister an, dem er gleichwohl misstraut, "braucht einen Vertrauten."

Ein Vertrauensverhältnis erwächst aus der Wahrheit, die man sich gegenseitig zumuten kann, so bitter sie sein mag. Die ländliche Idylle, die der neue Verwalter ausmalt, um seinen Herrn zu einer Kutschfahrt durch seine von jubelnden Bauern bevölkerten Fluren zu ermuntern, erkennt der Fürst als falschen Schein: "Sie machen sich über mich lustig!" Aber ist wirklich wahr, was ihm der Verwalter später erzählt: Dass es in seinem Land arme Leute gibt, die ihren kleinen Kindern einen Arm oder ein Bein abschneiden, um sie mit ihren Stümpfen auf die Straße zum Betteln zu schicken?

Bremers Beziehungskiste - eine Schatulle mit doppeltem Boden, unter dem sich eine Schlangengrube öffnet? "Der Fürst spricht", ein siebzig Seiten füllender Miniaturroman, der dem Berliner Autor vor fünf Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis einbrachte, erweist sich in seiner Vieldeutigkeit jedenfalls auch als bühnentauglich. Das Theater zum westlichen Stadthirschen präsentiert seine Bearbeitung nicht im vertraut-versteckten Domizil an der Kreuzbergstraße, sondern - leichter erreichbar - im Theater am Ufer. Der Saal im obersten Stockwerk des Hinterhofaltbaus ist für Werner Gerbers Inszenierung sparsam, doch effektvoll ausgestattet: Ein hoher blauer Himmelsstrich hinter einem golden schimmernden Lüster, ein Schreibtisch, ein Sofa; mobile schwarze Prospekte schaffen zusammen mit dem zwischen Gelb und Rot wechselnden Licht eine Atmosphäre zwischen Tag und Traum.

Das Romanpersonal ist in fünf Figuren überführt; zu den drei Protagonisten treten ein "kleiner Mann" (Uwe Meyer) und eine "kleine Frau" (Tessie Tellmann), ein possierliches Paar, das als Diener oder, simultan plappernd, als Erzähler fungiert. Der hochgewachsene Dominik Bender füllt die Doppelrolle des Hofmeisters/Verwalters aus: finster dräuend der eine, beflissen bemüht der andere. Als Fürst, zwischen dem Willen zur Autorität und der Neigung zum Autismus changierend, übt sich Peter Hausmann geläufig auf der Nervositätsskala, ein kahlköpfig asketischer Typ in hochgeschlossener Rittmeisterkluft. Seine eindrücklichsten Momente erzielt er, wenn dieser einsame Mensch von seiner größten Liebe spricht: der zu einem Hund, der sich auf seinen Schlosshof verlaufen hat, ein flüchtiger Gast. Mit tonloser Stimme beichtet er, dass ihn nichts glücklicher macht als der Anblick, wie der Hund, den er für verschwunden oder gar verendet hat halten müssen, "für einen Augenblick seine Pfote hinter der Tonne hervorstreckt".

Günther Grack

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