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Kultur: Stein oder Nicht-Stein, das ist hier die Frage

Die Pariser Kulturinstitution denkt über die Zeit nach und feiert seinen Architekten Renzo PianoJörg von Uthmann Seit nicht einmal vier Wochen ist das Centre Pompidou wieder offen, aber die Pariser tun so, als wäre es nie zu gewesen. 80 000 Besucher packten in den beiden ersten Tagen die Gelegenheit beim Schopf, das renovierte Bauwerk kostenlos zu inspizieren.

Die Pariser Kulturinstitution denkt über die Zeit nach und feiert seinen Architekten Renzo PianoJörg von Uthmann

Seit nicht einmal vier Wochen ist das Centre Pompidou wieder offen, aber die Pariser tun so, als wäre es nie zu gewesen. 80 000 Besucher packten in den beiden ersten Tagen die Gelegenheit beim Schopf, das renovierte Bauwerk kostenlos zu inspizieren. Auguren hatten vorausgesagt, ein Streik werde die Wiedereröffnung am 1. Januar vermasseln. Der Streik kam wirklich, aber erst einige Tage später, und Jacques Chirac musste seinen ersten offiziellen Besuch verschieben. In Plakaten baten die Streikenden das vor verschlossenen Türen stehende Publikum um Verständnis: Der "Mangel an Aufmerksamkeit" seitens der Direktion lasse ihnen leider keine andere Wahl. Rascher hätte sich das Centre Pompidou in die Pariser Normalität nicht einfügen können.

Der Museumsbaumeister

Im Mezzanin darf sich jetzt mit Renzo Piano einer der beiden Väter des Gebäudes selbst feiern. Der heute 62-jährige hatte auch an dessen Renovierung mitgewirkt, während sein Kompagnon Richard Rogers mit dem Riesenzelt des Londoner Millennium Dome anderweitig beschäftigt war. Zweierlei fällt beim Rundgang sofort auf - die Eleganz der Modelle und die Vielseitigkeit der Projekte.

Gewiss, seit dem Sensationserfolg des Centre Pompidou ist Piano ein gesuchter Museumsbesucher. Der Baseler Kunstsammler Ernst Beyeler nahm seine Dienste ebenso in Anspruch wie Dominique De Menil in Houston, die sogar zwei Piano-Museen in Auftrag gab. Derzeit arbeitet er an drei Museumsprojekten - in Bern, in Cambridge (Massachusetts) und Chicago. Wer nun eine Allerweltsformel erwartet, hat sich getäuscht. Die raffinierte Bescheidenheit der beiden Museen in Houston ist von der kecken Provokation des Centre Pompidou Lichtjahre entfernt.

Aber Museen sind nur ein kleiner Teil von Pianos Oeuvre. Für den Potsdamer Platz in Berlin hat er ein Ensemble aus 18 Gebäuden entworfen, in Köln baut er gerade die neue Zweigstelle eines Bekleidungshauses. Sein größtes Projekt war bisher der Flughafen Kansai, den sich die japanischen Städte Osaka, Kobe und Kyoto teilen: Die wellenförmige Halle ist fast zwei Kilometer lang. Pianos ungewöhnlichste Schöpfung ist das Kulturzentrum der Kanaken in Nouméa (Neukaledonien): Es erinnert an riesige, vom Wind zerzauste Körbe.

Die Versuchung ist groß, einen Architekten an seinen spektakulärsten Bauten zu messen. In den schweren Bilderbüchern finden sich immer wieder die auftrumpfenden Solitäre. Aber zum großen Architekten gehört auch die Fähigkeit, seine Phantasiegebilde in die Umgebung, in der sie Platz nehmen sollen, einzupassen. In diesem Punkt wird mancher bei Piano - wie bei vielen seiner Zeitgenossen - einen gewissen Autismus diagnostizieren. Urbane Wärme ist seine Sache nicht, was vielleicht auch mit seiner Vorliebe für kalte Materialien, für Stahl und Glas zusammenhängt. Piano hat sich gegen den Vorwurf gewehrt, der Stadt feindlich gesonnen zu sein: Sein auf einem isolierten Felsen außerhalb von Genua gelegenes Büro nennt er ein "post-urbanes Labor". Dass er, wenn es sein muss, auch geschmeidig auf vorhandene Strukturen eingehen kann, hat er mit dem Umbau des Lingotto, dem historischen Herzen des Fiat-Konzerns in Turin, bewiesen: Aus Europas größter Automobilfabrik machte er un pezzo di città mit Auditorium, Hotel, Shopping-Mall und Hörsälen der Universität. Im ärmlichen Osten von Paris hat er sich sogar bereit gefunden, Sozialwohnungen zu bauen. In ihrer strengen Sachlichkeit erinnert die Siedlung an einen mittelalterlichen Beginenhof. Die Fassade ist mit roten Terrakotta-Platten verkleidet. Doch auch hier zeigt sich der rasche Verschleiß, der das Centre Pompidou nach 20 Jahren zur Schließung zwang: Viele der Platten sind bereits abgefallen.

Orgie der Beliebigkeit

Derweil hat die erste große Sonderausstellung ("Die Zeit, schnell") von der sechsten Etage Besitz ergriffen. Mehr als 400 Objekte sollen den Eintritt ins neue Millennium markieren und zugleich die Besonderheit des Centre Pompidou, seine "Pluridisziplinarität", vorführen. Herausgekommen ist leider eine Orgie der Beliebigkeit, in der der Besucher rasch die Orientierung verliert. Statt sich so eng wie möglich an das ohnehin uferlose Thema zu halten und sich auf Uhren, Kalender, Metronome und andere überschaubare Aspekte zu beschränken, wollten die Veranstalter alles sagen - und haben am Ende nichts gesagt. Dass sie die "Suche nach der verlorenen Zeit" von 50 Schriftstellern vorlesen lassen, ist noch ein ganz hübscher Gag, obwohl ernsthaft Interessierte die Profis André Dussollier und Lambert Wilson, die dabei sind, Prousts Riesenwerk auf CD einzuspielen, den dichtenden Laien vermutlich vorziehen werden. Aber was haben der Griffel eines ägyptischen Schreibers, Andreas Gurskys Diptychon "Die Börse in Hongkong" oder Guillaume Bijls naturgetreu nachgebautes Reisebüro mit der Zeit zu tun, von Bertrand Laviers Gegenüberstellung eines Rennwagens und einer Weinflasche ganz zu schweigen? Man ahnt, was gemeint ist, und bringt sich vor weiterer Zeitverschwendung schnell in Sicherheit.

Im übrigen sind noch keineswegs alle Abteilungen geöffnet. Die Stammkunden der überaus populären, auch künftig kostenlosen Bibliothek werden sich noch einige Tage gedulden müssen. Auch das Theater im Untergeschoss und das Restaurant auf dem Dach nehmen den Betrieb erst im Februar auf. Dagegen trumpft das Mauerblümchen, das bisher immer von den Sonderausstellungen überschattete Museum in der vierten und fünften Etage, auf wie nie zuvor. Statt bisher 800 Werke kann Museumsdirektor Werner Spies deren 1400 zeigen. Ob es sich, wie behauptet wurde, um "das schönste Museum der modernen Kunst" handelt, darf man angesichts der mächtigen New Yorker Konkurrenz getrost offen lassen. Aber es ist zweifellos das Museum mit dem schönsten Blick. Einige der klaffendsten Lücken hat Spies durch Ankäufe und Leihgaben diskret geschlossen. Besonders originell ist die Rekonstruktion einer Wand des Ateliers von André Breton, eine mehr als 200 Stücke umfassende Sammlung exotischer Plastiken, Masken, Bilder und objets trouvés, vor denen der Diktator des Surrealismus an seinem Schreibtisch thronte."Piano" bis 27. März (ab 1. Juni in Berlin, Nationalgalerie), Katalog 190 Francs. "Die Zeit, schnell" bis 17. April, Katalog 150 Francs.

Jörg von Uthmann

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