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Kultur: Sterbenskrank, lebenslang

Starker Saisonstart: „Ritter, Dene, Voss“ am Berliner Ensemble

Der Philosoph Ludwig, heimgekehrt aus der Nervenheilanstalt, zu Besuch bei seinen Schwestern, liegt erschöpft mit dem Kopf auf dem Tisch des bürgerlichen Wohnzimmers. Er kann nicht mehr. Hasserfüllt hat er das Gebäck, das seine ältere Schwester ihm aufgedrängt hatte, in sich hineingestopft und dabei immer lauter das Wort „Brandteigkrapfen“ gebrüllt, als sei in ihm alle Sinnlosigkeit der Welt enthalten. Er hat das Tischtuch samt Geschirr vom Tisch gerissen („Eine Etude, mein Kind, damit ich nicht aus der Übung komme“), hat auf die Ärzte geschimpft und auf seine Schwestern. Auch seine Tiraden über die „Sterbenskrankheit“ der Menschen und die „Jugendstilperversität“ des Salons sind versickert, und jetzt ist er am Ende.

Plötzlich macht sich eine Stille breit wie nach einem Wirbelsturm. In diese Stille hinein seufzt und stöhnt er, wund vom eigenen Denken, „dem Leben einen Sinn geben“. Ein sinnloser Satz, ein Manifest der Vergeblichkeit. Er kauert am Tisch, der Welt abhanden gekommen, und dann bricht dieser Satz noch einmal aus ihm heraus. Das ist traurig. Und anrührend. Und, nach den Tobsuchtsanfällen, Weltverdammungsreden und sorgsam gepflegten Idiosynkrasien, die diesem Stoßseufzer vorangegangen sind, auch auf sehr beiläufige Weise komisch.

Gert Voss spielt diesen Philosophen der Verzweiflung, er spielt ihn in einem Stück, das der Dichter Thomas Bernhard ihm und seinen beiden Bühnenpartnerinnen, der wunderbar flirrenden Ilse Ritter, der resoluten Kirsten Dene vor bald zwei Jahrzehnten auf den Leib geschrieben hat: „Ritter, Dene, Voss“. Ein Stück Kammermusik für drei Schauspielkünstler, beiläufig, intelligent und ohne auftrumpfende Effekte in Karl-Ernst Hermanns Bühnenbild von Claus Peymann inszeniert. Es ist, trotz der Widmung, kein Stück über Schauspielerei, auch wenn der Radikalmisanthrop Bernhard den Radikalmisanthropen Ludwig neben vielem anderen auch das Theater verdammen lässt („Schauspielerei. Ehrabschneidung. Unterhaltsamkeitswelt“). Kein Stück über das Theater auf der Bühne, eher ein Stück über das Theater des Lebens, oder, um es mit einem BernhardWort zu sagen, der Existenz.

Was wir am Berliner Ensemble zur Spielzeiteröffnung sehen, ist das Remake einer Erfolgsinszenierung – und es ist alles andere als ein müder Aufguss oder die Reanimierung eines totgespielten Stückes. Peymanns Uraufführung fand 1986 bei den Salzburger Festspielen statt, der Regisseur und frisch gebackene Burgtheater-Direktor übernahm sie an seine neue Bühne, wo sie ein Bernhard-Hit im Repertoire wurde. Bei der Uraufführung müssen Ritter, Dene und Voss ein Ereignis gewesen sein: „Die Grazie äußerster Verzweiflung“ entdeckte die Kritikerin Sigrid Löffler bei Gert Voss, ein „schmaler, geschmeidiger, älterer Jüngling“, schwärmte Benjamin Henrichs, „ein heller Kopf auf einem leichten Körper.“

Achtzehn Jahre später sind Inszenierung und Schauspielkünstler älter geworden. Das Stück, vor allem, was Gert Voss aus seiner Figur macht, haben eine andere Härte und Endgültigkeit bekommen, eine geradezu beängstigende Wahrhaftigkeit. Voss, Anfang 60, kaschiert sein Alter nicht, versucht nicht, die tänzerische Leichtigkeit der Uraufführung zu erreichen, sondern entwickelt im Gegenteil seine Figur gerade aus ihrem Alter. Er betont die Müdigkeit des kranken Denkers. Seine Hassausbrüche gegen seine Schwestern, die toten Eltern, die moderne Kunst, gegen alles und jeden, wirken wie ein letztes Aufbäumen. Kein Überschuss an Kraft, der sich in übermütigen Hassattacken entlädt, sondern ein Zusammensuchen letzter Kraftreserven, um wenigstens noch einmal zu sagen, was alles falsch ist an der Welt und den Menschen und der eigenen Existenz. Und wenn er das geschafft hat, strahlt er mit einem bösen Lachen. Auch das Gegenteil dieser Tiraden, die Momente, in denen Voss in eine kindliche Hilflosigkeit zurückfällt, wirken weniger virtuos als zutiefst anrührend. Die Hilflosigkeit des Kindes und die Schwäche des Alten gehen ineinander über.

Seine Partnerinnen, Ludwigs Schwestern und die Opfer seiner monomanischen Launen, sind ihm in jedem Moment ebenbürtig. Ilse Ritter als etwas naives altes Mädchen spielt eine, die schon lange im Glück der Regression zu Hause ist und noch bei den Ekel-Tiraden des verrückten Bruders besinnungslos strahlt. Kirsten Dene entwickelt aus ihrer Figur, halb resolute Hausfrau, halb hysterisch-empfindliches Unglück, eine trockene Komik. Ein anrührender, starker Spielzeitbeginn am Berliner Ensemble.Nächste Vorstellungen: 6., 7., 8. Sept.

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