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Michael Fassbender als Brandon in "Shame".

© dpa

Steve McQueens "Shame": Mein Körper, mein Käfig

Der unaufhaltsame Abstieg des Brandon XXX: Steve McQueens "Shame" ist eine grandiose Studie über einen Sexsüchtigen in New York. Die Hauptrolle spielt Michael Fassbender. Und eine starke Nebenrolle: Carey Mulligan.

Was für ein smarter Typ, dieser Brandon. Abends feiern sie mit ein paar Kollegen in der Bar, sein Chef Dave will eine von den beiden Blonden am Tresen aufreißen, und Brandon leise zu den anderen: „20 Dollar, dass er’s verbockt.“ Und tatsächlich, Dave quatscht und quatscht, Brandon kommt näher, Dave nötigt die eine zum Tanzen, sie guckt zu Brandon rüber, Brandon guckt zurück, klar, da machen sich zwei klar. Dann draußen, Dave hat ein bisschen viel getrunken, die beiden Blonden machen sich los und tschüss, Brandon hilft Dave ins Taxi und tschüss, Brandon geht ein paar Schritte allein. Da schwebt die Blonde mit ihrem Auto ins Bild: „Mitfahren?“

So läuft das, so cool, bis zum Five-Minutes-Stand unter der Brücke, Hose runter, Rock hoch und tschüss. Andererseits: Letzte Nacht musste ein Callgirl her, und morgens masturbiert Brandon unter der Dusche und gleich nachher nochmal im Klo im Büro. Dieser Druck, dieser uncoole Druck, und dann gibt es da die Webcam-Stripperinnen, die „Hallo, Brandon“ rufen, wenn er den Laptop aufklappt, und die Kartons mit DVDs und Pornoheften in Brandons Apartment in Manhattan, wo der AB schon wieder angeht und eine Frauenstimme sagt: „Geh schon ran, Brandon, ich weiß, dass du da bist, geh doch schon ran.“

Brandon, der Jäger, Brandon, der Gejagte. Brandon, der coole Typ, Brandon, der magere Körper, der nackt durch die coole Wohnung geht. Brandon, die Sexmaschine. Nur was, wenn da was dazwischenkommt und die Frau am Telefon seine Schwester Sissy ist, total fertig, Liebeskummer oder Borderline oder was? Und was, wenn er Sissy ganz früher mal den Wohnungsschlüssel gegeben hat, und plötzlich liegt sie da in seiner Badewanne, als er vom Job nach Hause kommt oder war es ein Sexdate, hallo Brandon, kann ich ein paar Tage bei dir wohnen, Brandon? Hallo, was soll Brandon jetzt mit Sissy, die ihn lustig fragt, ob er neuerdings Hundeshampoo benutzt, haha, Sissy, die ihm ins Gesicht sagt: „Du wirst grau!“?

Brandon also, der Gefühlswegmacher, Brandon, der Frauenfresser, Brandon, das attraktive Nichts. Seine längste Beziehung, sagt er, hat vier Monate gedauert. Bisschen kurz, findet die hübsche Kollegin Marianne, die mit Brandon gern was anfangen würde – bisschen komisch, ein Mann Mitte dreißig, der noch nie geliebt hat, oh sorry, sagt man das so? Und dann doch Brandon, der zu weinen anfängt, als Sissy, sie hat Engagements als Sängerin ab und zu, in einem Club „New York, New York“ singt, den Schmachtfetzen von Sinatra, und Familienpapachef Dave sitzt daneben, und natürlich hat er schon ein Auge auf Sissy geworfen, und Brandons Tränen, die kann er jetzt aber gar nicht verstehen.

Die Nacht, in der es Tilt macht

So geht „Shame“ von Steve McQueen, der mit Michael Fassbender alias Brandon schon „Hunger“ gedreht hat vor ein paar Jahren: kontrolliert, aber brodelnd von Anfang an, wild, verzweifelt, radikal. Ein Körper löst sich auf, weil Seele ihn aufweicht – ist es das? Ausgepumpt vom ewigen Upload und Download der Körperflüssigkeiten, aufgefressen von der Sucht nach Orgasmen, die wenigstens für Sekunden vom grässlich ewigen Begehren erlösen? Ja, eine Suchtstudie ist „Shame“, von Lust zu Scham zu sofort neuer Lust, die die Scham tilgen möge, und irgendwann treibt Brandon in die Abwärtsspirale einer grässlich endlosen Nacht, bis es Tilt macht, und endlich fliegt er raus aus allem, raus, raus.

Fassbender hat den Schauspielerpreis letzten Herbst in Venedig und zahllose Kritikerpreise gewonnen für diese Tour de Force, und dass er bei den Oscars nicht dabei ist, ist Oscars Problem, nicht seins. Und die zarte Carey Mulligan als Sissy ist kaum wiederzuerkennen, so grandios kaputt schneit sie rein ins kaputte Bruderleben, und dann rettet sie ihn vielleicht doch. Nicht zu vergessen Dave (James Badge Dale), die Witzfigur, und Marianne (Nicole Beharie), vor deren warmherziger Wahrhaftigkeit Brandon zwangsläufig versagt. Sonst noch wer? So wenig Leute gibt es an den Rändern dieses durch Funktionalbegegnungen getakteten einsamen Lebens, das auf einmal aus dem Takt gerät.

Was für ein toller Film, dieser „Shame“. Im Wechsel zwischen konzentrierter Augenblicksfokussierung und Rasanz, im scharfen Sinn für das Wesentliche, der Reduktion bedeutet, visuell oder in Wörtern, hier der Kamerablick auf Brandons nackten Körper, der das Gesicht weglässt, dort Dialoge, die so ausgehen: „Macht nichts, schon okay. Soll ich gehen?“ Und er: „Klar.“ Ein Film darüber, wie Leben heute geht, umstellt von dauerverfügbarem Sex, analog, digital, egal. Nur zwei Szenen gibt es, in denen der Zuschauer Atem holt: Sissys Lied, der Film lässt sich dafür gefühlte zehn Minuten Zeit. Und der Blickwechsel zwischen Brandon und einer Fremden in der New Yorker Subway, noch zehn Minuten, das sind schon zwanzig. Zwanzig von gefühlten zweihundert, die im Sturzflug vergehen.

JAN SCHULZ-OJALA

Cinemaxx Potsdamer Platz, Delphi, International, Kulturbrauerei, Neues Off; OmU: Hackesche Höfe, International, Odeon; OV im Cinestar Sony Center

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