zum Hauptinhalt

Kultur: Stumm wie ein Fisch

Uraufführung an der Schaubühne: Benoît Lachambres Tanzprojekt

Eine Vorstudie war bereits im März zu sehen. Damals hatte Benoît Lachambre, der kanadische Choreograph des gepflegten Neoprimitivismus, über die Tänzer aus Sasha Waltzens Schaubühnen-Compagnie geschwärmt. Sie seien so „durchlässig" für seine Recherchen, so „widerstandslos und offen". Tatsächlich wagen sich die neun Teilnehmer des Projekts „Reverse me not … what about now" sehr weit auf unerforschtes Gebiet. Denn Lachambre lässt mit, an und über den Lautbildungsapparat arbeiten. Den sonst vermeintlich stummen Tänzern soll ihre ganze Stimmgewalt zurück gegeben werden. Außerdem soll die Arbeit an der menschlichen Geräuschproduktion den gemeinsamen, muskulären Ursprung von Laut und Bewegung deutlich machen.

Mehr aber auch nicht. Das Publikum erblickt beim Betreten des Saals die Tänzer bereits auf der Bühne, hinter einer langen Reihe von Stühlen. Für jeden Akteur liegt ein verkabeltes Mikrofon bereit. Das Licht verlöscht. Und schon ertönt ein durch Mikrofone verstärktes Atemgeräusch aus Tänzermündern. Sie gehen zu meditativen Summtönen über. Schließlich folgt ein Durchgang durch alle Tonlagen: Es wird geheult, gewimmert, gekeucht, gewürgt und geröchelt, einmal kurz gelacht, dann wieder geschrien. Ein paar Mal auch gesprochen und gezählt. Erneutes Seufzen und Ächzen.

Doch immer bricht die Laut-Situation jäh wieder ab. Der Zuschauer wird nah an die Grenze des Erträglichen geführt, Einreisen darf er nicht. Stattdessen läuft das Unternehmen zunehmend in zirzensische Leere und flüchtet sich in immer heftigere Reize und Kontraste. Zwar erstaunt bei aller Stimmakrobatik die Herstellbarkeit von entfesselten Gefühlsausbrüchen allein durch Laut-Gesten. Deren Wirkung funktioniert, aber sie begeistert nicht.

Da ist die Passage, bei der sich das Ensemble in ein lautliches Bestiarium verwandelt und alle Arten dschungelnaher Tiergeräusche imitiert, noch der überzeugendste Teil des einstündigen Abends. Mit Girren, Rufen, Flöten, Pfeifen und Keckern überqueren die Tänzer langsam die Bühne. Allerdings begnügt sich das Stück nicht mit diesem wohligen, gleichsam vorbewussten Verdämmern. Sondern Lachambre fügt an diese Szene noch eine rätselvoll-überladene Bildsequenz an, bei deren Ende die Tänzer in umgekehrter Richtung hinter ihren Mikrofonen herkriechen und auf der Strecke bleiben - nicht ohne eine schöne, geschuppte Linie zu bilden. Wir denken an Fische. Die aber sind nun wirklich stumm.

Wieder heute sowie Sonntag, 19 Uhr 30

Franz Anton Cramer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false