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Kultur: Täter & Opfer

Winfried Bonengels Film „Führer Ex“ erzählt, wie man in Deutschland Neonazi wird – und wieder aussteigt

Sie sitzen gerne auf dem Dach. Schön hier: der Himmel über Ostberlin, das Häusermeer, ein Kasten Bier, eine Matratze, ein Strandkorb. Heiko und Tommy (Christian Blümel, Aaron Hildebrand) haben sich eine kleine Insel mitten im real existierenden Sozialismus gebaut. Aber trotz Pogo im Jugendclub, trotz trickreich ergatterter Kurzurlaube vom Arbeitsalltag, trotz Liebe und Männerfreundschaft ist die Insel eines Tages zu klein. Tommy hat an einer DDR-Flagge gezündelt, muss in den Knast, kommt mit Springerstiefeln und Stacheldraht-Tattoo am Hals wieder heraus („es war wie überall in der DDR, nur noch ein bisschen enger“) und überredet Heiko zur Republikflucht. Aber die Reise ins kapitalistische Ausland endet am Todesstreifen – und führt in das schlimmste Zuchthaus der DDR.

Nach einer wahren Geschichte, heißt es über das von Ex-Nazi Ingo Hasselbach und Regisseur Winfried Bonengel verfasste Drehbuch, das auf Hasselbachs „Abrechnung“ basiert, dem Bericht von seinem Ausstieg aus der rechten Szene. Seltsam: Die Wahrheit kommt schrecklich logisch daher in diesem Film, irgendwie ausgedacht und pädagogisch überaus wertvoll. Der Dokumentarist Bonengel („Beruf Neonazi“) setzt in seinem Spielfilmdebüt „Führer Ex“ auf Identifikation: Ja, die Zuschauerin versteht diese Jungs, die von den Eltern alleingelassen, vom Staat drangsaliert, im Knast schikaniert und gequält werden. Wo Schlägereien, Demütigung und Vergewaltigung an der Tagesordnung sind, ist es nur konsequent, dass man nach starken Beschützern sucht und sich irgendwann doch der Nazi-Gruppe auf dem Gefängnishof anschließt.

„Führer Ex“, uraufgeführt bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig, ist die Chronik der systematischen Zerstörung einer Person: ein von Vorgeschichte und Epilog eingerahmter Gefängnisfilm, der sich redlich an die Regeln des Genres hält. Bonengel bevorzugt den durch Gitter und Drahtzäune eingesperrten Kamerablick, setzt auf den Effekt lautstark zuschlagender Zellentüren und brüllender (oder wahlweise hinterhältig freundlicher) Wärter. Und er zeigt ebenso viel Grausamkeit, wie es zwecks Verstörung des Publikums notwendig ist. Dazu Punkrhythmen und ein ansonsten wagnerisierender Soundtrack: Hauptsache heftig.

Tommy ist hart im Nehmen: pragmatisch, auch mal brutal, aber im Zweifel ein solidarischer Freund. Heiko, der blonde Wuschelkopf mit dem zarten Gesicht, ist sensibler – und zerbricht. Eine simple Dreisatz-Rechnung: Erst krümmt sich der Misshandelte nackt und winselnd in der Gefängnisdusche und schabt mit den Fingernägeln apathisch an den Wänden seiner Isolationszelle. Dann nähert er sich so willenlos wie unterwürfig dem Nazi-Anführer Friedhelm (Harry Baer), um schließlich, nach dem Fall der Mauer, wieder in Freiheit als Neonazi „Heil Hitler“-Reden zu schwingen. Er kann nicht anders – der Täter, ein Opfer.

Gewalt gebiert Gewalt. Als sei der Mensch ein restlos konditionierbares Wesen und sein Handeln ein einziger bedingter Reflex. Zwar wird mit dem Gegensatz zwischen Tommys und Heikos Verhalten auch die Option der Gewaltverweigerung in Szene gesetzt. Als Heiko und seine neuen Freunde „Asseln“ verprügeln gehen, fällt ausgerechnet Heikos einstiges Nachbarsmädchen Margit den Schlägern zum Opfer – und Tommy steigt wütend aus. Aber er hatte ja von Anfang an das robustere Naturell. Und auch hier spürt man die pädagogische Absicht.

Mag sein, dass „Führer Ex“, mit Begleitbroschüre und CD-ROM eigens zu Unterrichtszwecken ausgestattet, Jugendlichen genau den richtigen Stoff für die Beschäftigung mit dem Rechtsradikalismus bietet. Aber Bonengels episodische Dramaturgie begradigt den Schlingerkurs einer Biografie (zumal einer DDR-Biografie vor und nach der Wende) zur Nummernrevue. Fein säuberlich, nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung, folgt auf die Teenie-Depression die erste Romanze (Jule Flierl als temperamentvolle Punkbraut) und auf die eifersüchtig enttäuschte Liebe der Ausländerhass. Und Heikos finaler Katharsis samt Urschrei geht eine mörderische Tragödie voraus.

Wer in der gestrigen Ausgabe dieser Zeitung die Geschichte des ehemaligen Neonazis Jan Weicht und seines Opfers Orazio Giamblanco nachgelesen hat, ahnt, dass die Wahrheit oft wirr ist. Weicht kehrte seiner rechtsradikalen Clique aus Rache den Rücken. Im wirklichen Leben tun wir das Richtige oft aus falschen Motiven. Und umgekehrt. Das Schöne am Kino ist, dass es ohne viele Worte genau davon erzählen kann. Wenn es Ordnung zu schaffen versucht, benimmt es sich seiner Vitalität. Vielleicht bleiben die jungen, überwiegend unbekannten Darsteller bei aller Authentizität deshalb so hölzern: weil man sie zu gut versteht.

In Berlin im Eiszeit, Kino in der Kulturbrauerei, Kant, Zoo Palast, Kosmos

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