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Kultur: Tagung in Berlin: Wo Lehrer ins Schlingern geraten: Die interkulturelle Gesellschaft und der Holocaust

Erinnern, Identität, Multikulturalität: Jeder dieser Begriffe weist genug Abgründigkeiten auf, um daraus ganze Diplomarbeiten und Studiengänge zu bestreiten. In heiliger Dreieinigkeit zu Leitfragen einer Pädagogen-Tagung über die Bedeutung des Nationalsozialismus in der multikulturellen Gesellschaften gemacht, garantieren sie ein Höchstmaß an thematischer Unübersichtlichkeit und begrifflicher Unschärfe.

Erinnern, Identität, Multikulturalität: Jeder dieser Begriffe weist genug Abgründigkeiten auf, um daraus ganze Diplomarbeiten und Studiengänge zu bestreiten. In heiliger Dreieinigkeit zu Leitfragen einer Pädagogen-Tagung über die Bedeutung des Nationalsozialismus in der multikulturellen Gesellschaften gemacht, garantieren sie ein Höchstmaß an thematischer Unübersichtlichkeit und begrifflicher Unschärfe. Da verliert der gesellschaftspolitische Konsens einer "Erziehung nach Auschwitz" im flirrenden Licht der Diskurse seine vertrauten Konturen. Wie überhaupt sollte der Holocaust im Zusammenhang einer multiethnischen Gesellschaften erinnert werden? Vermag er dort immer noch das gesellschaftliche und das individuelle Ethos, ja das Selbstverständnis zu begründen? Welche Lehre ist aus den Völkermorden der Nationalsozialisten für die dritte Generation spätgeborener Zugewanderter zu ziehen? Welche Pädagogik ist an den entsprechenden Gedenkstätten zu praktizieren - die politisch-historische? die multikulturelle?

Das verwirrende Diskursgewimmel verschluckt alle braven Versuche, mit wenigen Grundsatz-Unterscheidungen Ordnung zu stiften, wie ein Schwarzes Loch das Licht. Gestandene Lehrer aus Gedenkstätten, Museen und Begegnungshäusern geraten ins Schlingern. "Sollen wir uns nicht zuerst einander mit dem eigenen biografischen Zugang und unseren Anliegen vorstellen", wurde in die etwa 50-köpfige, international besetzte Runde gefragt, die sich auf Einladung von Aktion Sühnezeichen für drei Tage im Jagdschloss Glienicke versammelt hatte. Geht es nicht schließlich um "Identität", ist "unsere eigene Identität nicht wichtig für den pädagogischen Prozess?"

In den Diskussionsrunden wird etwas von den Problemen deutlich, denen sich die Gedenkstättenpädagogik in multiethnischen Gesellschaften gegenüber sieht. In den USA scheint die multikulturelle Vermittlung des Holocaust am weitesten fortgeschritten zu sein. Dort gewinnen ethnische, regionale und religiöse Zugehörigkeiten für diese Aufgabe der historischen Erzählung immer größere Bedeutung, dabei vertieft sich der Dissens über die kollektive Identität. Zugleich aber wächst, so geht aus den Berichten hervor, in der Wahrnehmung der verschiedenen ethnischen Gruppen die "universelle Bedeutung des Holocaust". Er habe mittlerweile seinen Stellenwert auch im Selbstverständnis von Afro- und Latino-Amerikanern.

Wie kompliziert indes die Erinnerungsarbeit vor Ort in den Gedenkstätten werden kann, zeigt das Beispiel eines türkischstämmigen Jungen, der mit seiner deutschen Schulklasse Maidanek besuchte. Nachdenklich war er am Lagerzaun stehen geblieben. Die polnische Polizei nahm ihn fest: "Ein verdächtiger Araber wollte über den Zaun klettern." Die Beschäftigung mit der rassistischen Vergangenheit Geschichte Deutschlands führt in Polen zu einer Verhaftung aus rassistischen Motiven: Der Einzelfall wirft ein Schlaglicht auf den Zusammenhang von ethnisch-sozialer Positionierung und Geschichtserfahrung. Nicht zuletzt im Einwanderungsland Deutschland splittet sich das Geschichtsbild ethnisch auf, das gilt zweillos auch für den Holocaust, der so zentral das Selbstverständnis der deutschen Nation bestimmt - ex negativo: "Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz!"

Die "Scham, Deutscher zu sein" tritt den Migranten-Schülern entgegen in Gestalt ihrer 68er Lehrer. Deren selbstkritisch reflektierte Täter-"Erinnerung" stiftet eine Schuld-Gemeinschaft, der sich die jungen Migranten kaum zuordnen können, zumal sie ihnen nicht als Familien- und Großelterngeschichte anhaftet. Sie definieren sich als "nicht zugehörig". Über ähnliche Abspaltungstendenzen wird auch bei ostdeutschen Schülern berichtet, die eine historische Schuld im altvertrautem Muster dem kapitalistischen Westen zugeordnen. Auch sie begreifen sich als historisch "sauber".

Erinnerungspädagogik, die interkulturell auf der Höhe sein will, steht da offenbar vor einem Dilemma: Sie kann keine für alle verbindliche Geschichtserzählung verordnen. Dennoch, so betonen die professionellen Erinnerungsvermittler, dürfe sich "niemand aus der Diskussion ausklinken". Der Holocaust müsse ein "unumgehbarer Auseinandersetzungshorizont" für alle Gesellschaftmitglieder bleiben. Darum sei es wichtig, im Migrationskontext unterschiedliche Perspektiven auf ihn zu ermöglichen. Immer wieder warnen die engagierten Pädagogen davor, die Gedenkstätten für das "Lernziel Multikulturalismus" oder andere Gegenwartsprobleme zu funktionalisieren. Solche Orte hätten vor allem geschichtspädagogische Bedeutung: "Wir, die wir in Europa zusammenleben, müssen wissen, was passiert ist."

Gerwin Klinger

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