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Tanztheater: Ein hinreißender Bastard

Hohe Sprünge: Boris Charmatz zeigt beim Berliner „Tanz im August“ eine ungewöhnliche Hommage an den kürzlich verstorbenen Tanzavantgardisten Merce Cunningham.

Von Sandra Luzina

Es ist nicht das Original, sondern eine Fälschung – aber eine clevere. Boris Charmatz ließ sich von dem Fotoband „Merce Cunningham: Fifty Years“ von David Vaughan zu einer ungewöhnlichen Hommage an den amerikanischen Tanzavantgardisten inspirieren. Das Festival „Tanz im August“ präsentierte „50 Years of Dance“ nun in der Akademie der Künste West. Der Andrang war riesig.

Merce Cunningham starb vergangenes Jahr im Alter von 90 Jahren. Seine Company befindet sich derzeit auf ihrer „Legacy Tour“, danach wird sie sich auflösen. An diesem Wochenende tritt sie in Erfurt im Rahmen des Weimarer Kunstfestes auf. Eine herbe Enttäuschung für die Berliner Tanzenthusiasten! Die Veranstalter des Berliner Tanzfestes mussten schon Kritik einstecken, dass sie sich dieses Highlight haben entgehen lassen. Soeben aber wurde bekannt, dass die Company doch im nächsten Jahr bei „Tanz im August“ auftreten wird. Derart getröstet, konnte man sich mit Vergnügen auf die Charmatz-Performance einlassen, die wie im Zeitraffer durch das Schaffen der Tanzlegende saust.

Für sein Projekt konnte Charmatz sieben ehemalige Cunningham-Tänzer gewinnen – darunter die beiden Veteranen Valda Setterfield und Gus Solomon Jr. Die bei „Tanz im August“ vorgestellte Version ist die vielschichtigste und formal anspruchvollste. Charmatz hatte das Projekt zunächst mit Berliner Tanzstudenten initiiert, für das „Musée de la Danse“ in Rennes hatte er es gar mit Laien einstudiert. Ein Zyklus von 300 Fotos stellt eine Art choreografisches Ready Made dar. Die Figuren werden Bild für Bild reproduziert und tanzend miteinander verbunden. Das Lebenswerk des großen Choreografen wird so selbst zu einem Tanzstück. „50 Years of Dance“ ist keine Rekonstruktion, aber auch keine reine Invention. Die erfahrenen Tänzer, die alle die Cunningham-Matrix in sich tragen, eignen sich das diffizile Material neu an. Wie sie die Übergänge gestalten, die eingefrorenen Momentaufnahmen verlebendigen, hat Charmatz ihnen selbst überlassen. Gerade in dieser freien Interpretation bewegen sie sich nahe am Geist des Meisters.

Der Abend beschert viele Déjà-vus. Und auch Überraschendes. Man erkennt sie gleich wieder, die gekippten Attitüden und die hohen Sprünge, für die Cunningham berühmt war. Das Ei, in das sich ein Tänzer verwandelt. Wie seltsame Vögel stelzen die Performer über die Bühne. Sie schwanken wie Halme im Wind und vereinen sich zu vertrackten Körperverkettungen und prekären Balancen. Ein ständiges Changieren: zwischen Stille und Bewegung, formaler Klarheit und dem Einbruch des Surrealen. Vor allem die älteren Tänzer, weit entfernt von kühler Perfektion, verleihen der Aufführung etwas untergründig Expressives. Charmatz selbst bezeichnet sein Stück als „Bastard“. Sagen wir lieber: Es ist ein Stück mit vielen Vätern und Müttern. Und eine überaus lebendige und spielerische Erinnerungsarbeit.

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