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Kultur: Teenagerliebe

Neue Videoarbeiten von Rineke Dijkstra in der Galerie Max Hetzler

Konzentriert schaut die Schülerin auf das Gemälde, zeichnet es auf ihrem Block nach, prüft, radiert, korrigiert. Völlig in ihre Aufgabe versunken. Für das Video „Ruth Drawing Picasso, Tate Liverpool“ hat Rineke Dijkstra Schüler mit Picassos Gemälde „Weinende Frau“ aus dem Guernica-Zyklus konfrontiert. In grauer Schuluniform und dicken Fellstiefeln sitzt Ruth auf dem Boden. Über ihr Gesicht huschen wechselnde Gefühle: Ernst, Anteilnahme, Faszination.

Die Künstlerin Rineke Dijkstra sucht den Moment, in dem Menschen sich unbeobachtet fühlen. Um den Kern einer Persönlichkeit herauszuschälen, blendet sie die Umgebung aus. Die dichte Ausstellung „Liverpool“ in der Galerie Max Hetzler zeigt, wie sehr die Niederländerin diese Arbeitsweise im Lauf der Jahre verfeinert hat. Dijkstra, Jahrgang 1959, arbeitete nach dem Studium an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam als Magazinfotografin. Ein Fahrradunfall machte sie fünf Monate lang zur Patientin. In einem Selbstporträt während der Rekonvaleszenz entdeckte sie die eigene Schutzlosigkeit. Seither richtet sich die Aufmerksamkeit ihrer Videos und Fotografien auf Lebensphasen des Übergangs: die Pubertät, den Wehrdienst, die Schwangerschaft. In ihren Porträts von Jugendlichen am Strand, jungen Soldaten oder Discobesuchern, mit denen sie international bekannt geworden ist, kommen die Wechselwirkungen zwischen dem Einzelnen und der Gruppe zum Ausdruck.

Für ein zweites Video aus der Tate Liverpool „The Weeping Woman“ beobachtete Rineke Dijkstra eine Schulklasse. Mädchen und Jungen, alle in grauer Schuluniform und roter Krawatte. Wieder stehen die Kinder vor Picassos Gemälde „Weinende Frau“ und interpretieren das Bild. Einer beginnt: „Keiner mag sie.“ Die anderen greifen den Faden auf und spinnen ihn fort: „Sie hat Kuchen gestohlen“ oder „Sie hat einen Geist gesehen.“ Mal formt sich die Gruppe zu einem Chor, dann wieder setzt sich eine einzelne Stimme durch. Die sommersprossigen Jungen und pummeligen Mädchen vertiefen sich in das Leid, das aus Picassos Bild spricht, rücken näher zusammen, Freunde legen den Arm über die Schulter des anderen. Es entsteht eine Szene des Mitgefühls, die an die Darstellung des Abendmahles erinnert.

Der Wunsch, gleich zu sein und doch verschieden, die Sehnsucht nach Geborgenheit in der Gruppe und nach Aufmerksamkeit als Individuum – in diesem Konflikt bildet sich bei Rineke Dijkstra die Persönlichkeit. In Liverpool hat sie jugendliche Discobesucher aus dem Club Krazyhouse gebeten, vor der Kamera im Studio zu ihrer Lieblingsmusik zu tanzen. Das Ergebnis ist eine aufwendige 5-Kanal-Videoinstallation: Man betritt den Raum und wird Teil der Inszenierung. Schüchtern fangen die Teenager an, kommen in den Rhythmus der Musik und finden im Tanz ihre authentische Ausdrucksform. Die Kleidung ist identisch, aber in der Bewegung offenbaren sie die Vielfalt ihrer Möglichkeiten. Interessant ist der Vergleich mit den Filmen von Candice Breitz, die in der Temporären Kunsthalle zu sehen waren. Die Südafrikanerin untersucht den prägenden Einfluss der globalen Popkultur, stößt dabei aber auf flachen Grund. Rineke Dijkstra fördert die Unterschiede zutage. Indem sie die Zwischenzeit, die Entwicklung und Veränderung beobachtet, lenkt sie den Blick auf das Potenzial der Jugendlichen. Ihre Videoarbeiten (50 000-85 000 Euro) belegen die ganz normale Einzigartigkeit.

Galerie Max Hetzler, Oudenarder Straße 16-20; bis 27. März, Di - Sa 11-18 Uhr.

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