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Telefongespräche mit Südossetien: „Ging ich durch einen Feuerregen hin ...“

Der Regisseur Peter Krüger arbeitete 2004/2005 an Theatern in Tschetschenien und Inguschetien, seitdem kennt er das Theaterensemble von Tschinwali, der Hauptstadt Südossetiens. Seit dem georgischen Angriff auf die Stadt telefoniert er täglich mit dem Intendanten und Kulturminister Tamerlan Dzudzow, der in den Kriegswirren nach seinen Schauspielern sucht.

Montag, 18.August

21.26 Uhr. Tamerlan ruft an, sein Handy funktioniert immer noch nicht. Ich frage ihn nach dem Ausnahmezustand. „Ausgangssperre von 21 bis 6 Uhr, Straßensperren, verschärfte Kontrollen. Der Sicherheitsdienst hat entdeckt, dass in den Nächten zuvor ,feindliche Kräfte’ eingesickert waren. Waffenverstecke wurden gefunden.“

Tamerlan ist heute nach Wladikawkas in Nordossetien durchgekommen. Er hat einen weiteren Schauspieler gefunden und ihn gleich mitgenommen. Jetzt sind „nur“ noch neun Ensemblemitglieder verschwunden. „In unserem jetzigen Rumpfensemble sind mehr Frauen als Männer. Vielleicht haben sich die anderen am Morgen nach dem georgischen Angriff sofort als Freiwillige gemeldet und kämpfen nun sonst wo. Die Unsicherheit ist fürchterlich.“

Ich erzähle ihm von unserer Aktion „Künstler gegen den Völkermord in Tschetschenien“, bei der wir damals Sponsoren auftrieben und das Theater aus Grosny zu mehreren Gastspielen nach Deutschland einluden, auch nach London in die Obhut von Vanessa Redgrave und zu Ariane Mnouchkine nach Paris. Die gastgebenden Ensembles sammelten Spenden, nach den Vorstellungen erzählten die Tschetschenen von ihrem zerstörten Land, das bei uns kaum einer kannte. Ob er sich ähnliche Gastspiele mit kleiner Besetzung vorstellen könne?

Nach einer kurzen Bedenkzeit ruft Tamerlan wieder an. Er schlägt Shakespeares „Julius Cäsar“ vor. „Damit waren wir 2003 im Moskauer Künstlertheater zu Gast. Das Publikum verstand unsere Auseinandersetzung mit Herrschaft und Herrschaftsdenken.“ Eine mutige Wahl. Caesars engster Vertrauter Brutus sieht die Entwicklung Roms mit Sorge. Anfangs plagen ihn Zweifel, aber dann ringt er sich dazu durch, dass Cäsar ermordet werden muss, um eine Diktatur zu vermeiden. Das Selbstgespräch von Brutus, im 2. Aufzug, 1. Szene: „Der größte Mißbrauch ist, wenn von der Macht sie das Gewissen trennt“, heißt es in der Übersetzung von A. W. Schlegel. Brutus setzt sich an die Spitze der tödlichen Verschwörung – und wird nach dem Mord der nächste Diktator. Tamerlan ist noch Kulturminister, bis Kokoity eine neue Regierung ernannt hat.

Dienstag, 19. August

22:36 Uhr. Tamerlan attackiert mich sofort. „Hier wurde heute eine G36 MP gezeigt!“ Ich: „Stimmt es, dass sie aus einer deutschen Waffenfabrik stammt?“ Er (scharf): „Du sagst das so dahin. Ist das bei euch nicht Thema?“ Ich: „Klar wird darüber gesprochen. Die Bundesregierung lässt den Fall untersuchen. Es heißt, die MPs wären auf Schmuggelwegen zu den Georgiern gelangt.“ Tamerlan: „Glaubst du das?“ Ich: „Ich glaube dir, alles andere kann ich nicht beurteilen.“ Tamerlan: „Auch nicht, wenn es Tote gibt, die mit eurem Kaliber erschossen wurden?“

Heute haben sie gemeinsam mit dem Folklore-Ensemble „Armond“ im Dorf Sinagur Dzauskogo ein Konzert veranstaltet. Mit Liedern, ossetischen Tänzen und kleinen Szenen, unter anderem nach Texten von Lermontow, haben sie versucht, gegen die fatalistische Stimmung anzugehen. Das Freilichtkonzert war überfüllt, in den nächsten Tagen wollen sie in 15 anderen Orten auftreten. „Ein alter Mann hat uns beschämt. Er schimpfte: .„Euer letztes Konzert war noch zu sowjetischen Zeiten. Hier wuchs eine Generation von Kindern heran, die nicht weiß, was Theater, Kino oder Konzert sind. Muss immer erst etwas Schreckliches passieren, bevor ihr euch auf uns Dorfbewohner besinnt?“ Der Mann hat recht, sagt Tamerlan.

Ich frage ihn, wann sie mit den Shakespeare-Proben beginnen können. Als Provisorium wurde dem Ensemble die Haupthalle des „Sowprofa-Hauses“ zugewiesen. Der Wiederaufbau des zerstörten Theaters soll zweieinhalb Jahre dauern, aber wenigstens das Kino „Chermen“ kann am 20. September wiedereröffnet und für Veranstaltungen genutzt werden. Am Schluss unseres Gesprächs zitiert Tamerlan aus „Julius Cäsar“: „Noch nie bis heute nacht, noch nie bis jetzt/ Ging ich durch einen Feuerregen hin./ Entweder ist im Himmel innrer Krieg,/Wo nicht, so reizt die Welt durch Übermut/ Die Götter, uns Zerstörung herzusenden.“

Mitwoch, 20. August

Überraschend ruft Tamerlan gegen 14.45 Uhr an. Ist was passiert? Er lacht über meinen Schreck. „Du wolltest doch schnellstens die technischen Bedingungen für ein eventuelles „Julius Caesar“-Gastspiel wissen. Wir brauchen acht schwere Holzhocker, einen langen Arbeitstisch und sechs Metallbetten. Fahren wir mit dem Bus, brauchen wir 15 Plätze. Wenn das Geld für Flüge reicht, brauchen wir 13. Bis heute Abend, gleich haben wir das nächste Konzert.“

22:04 Uhr. Tamerlan meldet sich wieder per Satellitentelefon. „Unsere Situation ist kritisch. Die große Hitze hört nicht auf. Das wenige reine Wasser reicht nicht. Bei der Versorgung durch Tankwagen mit eingeteilten Litermengen gibt es Gedrängel und Zetern.“ Die Frauen, erzählt Tamerlan, wandern in Zweierreihen zu den Quellen in die Berge. Die Männer haben ihnen Joche angefertigt, an denen zwei Eimer hängen. „Es ist ein Notbehelf. Sieht aus der Ferne unglaublich aus.“ Ich frage nach humanitärer Hilfe. Es soll Schwierigkeiten bei der Einreise von westlichen Hilfskonvois geben. Schon sind wir wieder mittendrin in unserer G-36-Waffendiskussion von gestern. Tamerlan sagt, dass sie sich gegen westliche Hilfe sträuben. „Nach dem nächtlichen Angriff der georgischen Armeeführung, der nur schlafende Zivilisten treffen konnte, wurde es von euren Medien so gedreht, als wenn wir Georgien überfallen hätten.“

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