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Kultur: Tempo und Tomaten

Berliner Literaturfestival: Doris Lessing präsentiert Altersweisheiten und Alltagsrezepte

Wenn ein alter Mensch stirbt, sagt ein afrikanisches Sprichwort, brennt eine ganze Bibliothek ab. Mit dieser Weisheit stößt der argentinisch-kanadische Schriftsteller Alberto Manguel („Eine Geschichte des Lesens“), bei seiner bald 87-jährigen Gesprächspartnerin auf offene Ohren: Früher, erklärt Doris Lessing, habe es noch Großmütter gegeben, die über Generationen überlieferte Geschichten erzählten. Aus ihnen lernten die Kinder. Nie werde eine Maschine diese Erziehung ersetzen. Dann schwenkt sie plötzlich um zu einem Rezept für Tomatensuppe, das sie in einem ihrer Bücher überliefert hat. Mit richtigen Tomaten!, schwärmt sie verzückt, solche Tomaten, in der Sonne gereift, gebe es heute gar nicht mehr!

Altersweise Einsichten und Alltagsbanalitäten liegen ganz eng beieinander bei dieser Grande Dame der englischen Literatur, die zu fortgeschrittener Stunde das Haus der Berliner Festspiele mit ihrer Gemeinde füllt. Beim Internationalen Literaturfestival erzählt Doris Lessing Geschichten von agilen Großmüttern (aus der englischen Fassung des Erzählbandes „Ein Kind der Liebe“) oder von Zukunftsmenschen, die mühselig die Ruinen und Zeichen des 20. Jahrhunderts zu enträtseln versuchen („Mara und Dann“). In ihrem dunkel geblümten Rock, das grau gewellte Haar schlicht nach hinten gesteckt, mag Lessing großmütterlich wirken, aber sie spricht lebendig, ganz auf ihr Publikum hin orientiert. Wenn sie eine Frage Manguels nicht beantworten mag, geht sie mit leichter Ironie darüber hinweg.

Es wird viel gelacht im Publikum. Dabei ist todernst, was sie, deren „Goldenes Notizbuch“ eine ganze feministische Generation vor sich hertrug, zu sagen hat. Wir wissen über alles Bescheid, erklärt sie eindringlich, es liegt alles klar vor uns, aber wir profitieren nicht von unseren Erkenntnissen. Das Gefühl, in einer immer kleineren und beschleunigten Welt zu leben und das, was wir erzeugen, nicht mehr kontrollieren zu können, überwältigt die Menschen. Sie werden nicht mehr fertig mit dem, was sie können.

Nach dem Krieg, erinnert sich Lessing, hätten sie und ihre Altersgenossen noch das Gefühl gehabt, die Welt verändern zu können. Jetzt geht es ihr vor allem um das Bewahren einer gefährdeten Kultur: Das ist ihr Thema, egal, ob sie die Großmütter auf die Erzählbühne stellt oder sich in „spekulativen Geschichten“ verliert.

1919 geboren und im kolonialen Rhodesien aufgewachsen, in den vierziger Jahren Mitglied der kommunistischen Partei, von der sie sich nach dem niedergeschlagenen Ungarn-Aufstand abwandte, hat Lessing gelernt, dass nichts ewig ist: „Dass es einmal kein britisches Empire mehr geben könnte, schien mir in den Dreißigerjahren unvorstellbar.“ Es gibt nicht mehr viele, die auf eine so lange Erfahrungsstrecke zurückblicken können, und noch weniger gewichtige Stimmen, die uns daran erinnern könnten, dass auch die heutige Kultur nicht ewig ist. Von Doris Lessing ist die Lektion leicht anzunehmen, auf typisch englische Art stapelt sie tief: „Als junge Frau dachte ich, dass alte Menschen Muse und Weisheit haben. Jetzt bin ich alt und merke, dass nichts davon stimmt.“

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