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Tschinwali

© laif

Theater: Shakespeare in Zchinwali

Theater im Krieg. Theater gegen den Krieg. Telefongespräche mit Südossetien.

Freitag, 8. August

Zchinwali, die größte Stadt der 75 000-Einwohner-Republik Südossetien, wird von georgischen Truppen bombardiert. Wie geht es den Kollegen des Dramatischen Theaters „K. Chetagurov“? Die Telefonanschlüsse sind gesperrt, E-Mails kommen zurück. Die Nachrichten werden stündlich bedrohlicher. Zchinwali ist zerstört, viele zivile Tote. Ich rufe die Kollegen des Inguschetischen Theaters „I.Basorkin“ in Nasran an und bitte sie, eine Verbindung nach Südossetien zu vermitteln. Der Schauspieler Wacha Chatziew fährt zu einem Armeestützpunkt an der nordossetischen Grenze und bekommt tatsächlich Telefonkontakt zum Innenministerium in Zchinwali. Ein Nachrichtenoffizier erreicht den Kulturminister und Theaterintendanten Tamerlan Dzudzow, er vermittelt über Chatziew einen Anschluss nach Berlin, aber vergeblich. Ständig besetzt.

Samstag, 9. August

Nach vielen Versuchen plötzlich ein Freizeichen. Tamerlan Dzudzow ist sofort am Telefon. Er lebt und arbeitet, sagt er knapp militärisch. Dann lacht er. Er wird von einem anderen Telefon anrufen, wegen der Militärzensur. Bis zum Abend nichts. In den Nachrichten ist von 1400 Toten die Rede; die russischen Truppen sind nach Südossetien vorgedrungen. Gegen 21 Uhr meldet sich Tamerlan. Im Theater sollte heute ein Festival zu Ende gehen, mit Ensembles aus Stawropol, Moldawien, Moskau und Orenburg , die ihre Shakespeare-Arbeiten zeigten. „Gestern Nachmittag setzten wir sie in zwei Busse.“ Dann fuhren sie unter dem Schutz der Miliz in Richtung Wladikawkas. Was aus ihnen wurde, weiß Tamerlan nicht. Am Abend vor dem Angriff spielten sie seinen „Hamlet“.

Seine Familie lebt. Das Mehrfamilienhaus hat einen Treffer abbekommen, sie sind in die Datscha gezogen. Wir vereinbaren, dass wir in Kontakt bleiben. Er will es morgen um die gleiche Zeit wieder versuchen.

In Tamerlans „Hamlet“-Inszenierung ist der skrupellos aufsteigende König Claudius ein bulliger Vollblüter, dessen Ähnlichkeit mit Südossetiens Präsident Eduard Kokoity unübersehbar ist. Kokoity war Freistilringer und Türsteher in einer Moskauer Diskothek, brachte es zum Oligarchen und besitzt Moskaus Vertrauen. Kokoity gefiel der „Hamlet“ und die Aufrichtigkeit von Tamerlan Dzudzow. Im Februar 2007 ernannte er ihn zum Kulturminister.

Sonntag, 10. August

Tamerlan ruft gegen 21.30 Uhr an. Er ist niedergeschlagen. Den ganzen Tag war er auf der Suche, hat aber nur sechs seiner 18 Ensemble-Mitglieder auftreiben können. „Ununterbrochen pfeifen die Katjuschas der Georgier“, sagt er. Im Zweiten Weltkrieg wurden die kleinen Raketen Stalinorgeln genannt. „Wollen die uns alle umbringen?“ In der Stadt sind unterdessen die Russen, meist maskiert und rüde im Umgang. Sie wecken nicht gerade Zuneigung für die „Befreier“. Tamerlan will wissen, wie sich der Krieg aus unserer Sicht darstellt. Ich erzähle ihm, dass die Georgier viel mehr Meldungen über ihre zivilen Opfer verbreiteten und aus Südossetien nur sehr wenig über die Zerstörungen berichtet wird. „Darüber rege ich mich die ganze Zeit auf“, sagt Tamerlan. „Hier wird eine Militärzensur praktiziert, die völlig daneben geht. Alles sowjetisch, fürchterlich…“ Das Theater, sowjetisch-antik mit korinthischen Säulen, wurde gezielt bombardiert. „Immer wollen die Angreifer als erstes die humanitäre Basis zerstören.“

Ich will wissen, wo seine sechs Schauspieler sind. Tamerlan hat sie in einer Schule am Stadtrand untergebracht. Wenn die Georgier oder die Russen das Wort „Theaterleute“ hörten, seien sie sofort zugänglicher geworden oder hätten zu helfen versucht. Schauspieler waren in der Sowjetunion immer etwas Besonderes, das kenne ich auch aus Tschetschenien und Inguschetien. Der Kontakt wird unterbrochen. Besetztzeichen.

Montag,11. August

Das Telefon klingelt gegen 23.40 Uhr. Vorher war kein Durchkommen. Seine größte Sorge: Wo sind die zwölf verschwundenen Schauspieler und ihre Familien? „Ich hoffe, in Wladikawkas! Ich war heute in der Schule bei den sechs anderen. Sie haben in der Bibliothek eine Lermontow-Ausgabe gefunden, als junger Offizier ist Dichter Michail Lermontow ja nach einem Duell in den Kaukasus versetzt worden. Die Schauspieler tippen Passagen ab und stellen ein Theaterprogramm zusammen. Vom schwierigen Leben der in den erhabenen Bergen lebenden kleinen Völker, von versuchten Eroberungen und der Vergeblichkeit von Gewalt. Damit beschäftigen sie sich ...“ Tamerlan will morgen probieren, nach Nordossetien durchzukommen, um dort die anderen zu suchen.

Dienstag, 12. August

21.09 Uhr. Tamerlan meldet sich aus dem Staatlichen Akademischen Theater V.V. Tchapsaew in Wladikawkas. Heute wirkt er angeheitert. Der Telefonton klingt hohl, seine Stimme hat ein Echo. „Überall in den Parks liegen Leute. Die Sammelstellen funktionieren schlecht. Hier im Theater haben sich nur zwei von den zwölf Kollegen gemeldet. Wo die anderen sind, wissen sie nicht. Es kann sein, dass sie gleich in irgendwelche Heime gebracht wurden. In Anapa am Meer sollen viele sein…“ Tamerlan unterbricht sich, schluckt, entschuldigt sich. Er will lieber erst morgen weitersprechen.

Mittwoch, 13. August

Letzte Meldung: Nach Angaben der Regierung in Tiflis haben die russischen Streitkräfte den Waffenstillstand gebrochen und bombardieren jetzt die Stadt Gori, 90 Kilometer von Tiflis entfernt. Hoffentlich meldet Tamerlan sich heute wieder.

Der Theaterregisseur Peter Krüger lebte 2004/ 2005 sechs Monate in Tschetschenien und Inguschetien. Mit Mitteln der Kulturstiftung des Bundes inszenierte er dort „Mutter Courage“ und den Brecht-Abend „An die Nachgeborenen“.

Peter Krüger

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