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Tanz in den Untergang. Cornelia Froboess als Ljubow Ranjewskaja. Foto: Bresadola/drama

© Bresadola/drama-berlin.de

Theater: Von Dienern und Herrn, vom Fallobst und seinem Kern

Thomas Langhoff inszeniert Tschechows „Der Kirschgarten“ am Berliner Ensemble

Sehenden Auges, aber komplett paralysiert trudelt die Gutsbesitzerin Ljubow Ranjewskaja in Anton Tschechows „Kirschgarten“ der Versteigerung ihrer Obstplantage entgegen. Am Ende kommt die hehre, ökonomisch allerdings ziemlich ertragsfreie Pracht tatsächlich unter den Hammer – während die Noch-Hausherrin sich auf einer Party die Seele aus dem Leib tanzt und offenbar auf eine Art deus ex machina lauert. Stattdessen taucht aber nur Lopachin auf, ein Unternehmer pragmatischen neuen Typs, der Sekt nicht von Champagner unterscheiden kann. Und weil Tschechow sich auch hervorragend mit der Herr-Knecht-Dialektik auskennt, verehrt dieses „kleine Bäuerlein“ die Ranjewskaja abgöttisch und hatte daher eine Art Kirschgarten- Rettungsschirm vorgeschlagen. Der sah vor, die Bäume zu roden und das Land für Datschen zu parzellieren. Die Besitzklasse, der neben der Ranjewskaja auch ihr ausdauernd Bonbons lutschender Bruder Gajew angehört, fand diesen Plan allerdings trivial. Und nun hat er das Grundstück eben selbst gekauft.

Tschechows Komödie über blinde, strukturell selbstgewisse Eliten, untergehende Kulturgüter, aufsteigende Realos scheint zurzeit in den Theater-Dramaturgien derart viele Identifikationsnerven zu treffen, dass „Der Kirschgarten“ nachgerade zum Stück der Saison mutiert. Allein in Berlin kommt er dieser Tage gleich dreifach unter den Hammer. Nachdem Thomas Langhoff jetzt im Berliner Ensemble den Anfang machte, ziehen im Dezember Thorsten Lensing und Jan Hein in den Sophiensaelen nach (mit Joachim Król und Devid Striesow). Im Februar folgt Stephan Kimmig am Deutschen Theater.

Dass Langhoff am BE mit einer radikal zeitgenössischen Perspektive in diese inoffiziellen kleinen „Kirschgarten“-Festspiele starten würde, war von vornherein nicht zu befürchten. Dass sich das Berliner Ensemble einer Ästhetik verpflichtet fühlt, bei der sich die Schauspieler weit ausholend die Hand vor den Mund schlagen, wenn „Überraschung“ oder „Erschrecken“ darzustellen ist, ist unter Theatergängern sattsam bekannt. Deshalb dazu nur so viel: Es hat sich nicht grundlegend geändert.

Interessanter als die antiquierten Volkstänze, zu denen Langhoff bei der Party im dritten Akt noch aufspielen lässt, ist allemal die Frage der Sympathienverteilung in diesem Auf- und Abstiegsspiel. Und die beantwortet die Inszenierung relativ eindeutig: Sie schlägt sich – angesichts ihrer eigenen konventionellen Ästhetik nicht ganz unoriginell – auf die Seite des Aufsteigers Lopachin. Sofern man die Tatsache, dass sie ihm im Gegensatz zum Gutsbesitzerinnen-Trupp mehr als drei, vier verschiedene Gesichtsausdrücke und Emotionen zugesteht, als Sympathiebekundung wertet. Im Vergleich etwa zu Ranjewskajas Bruder Gajew (Martin Seifert), der von der ersten bis zur letzten Sekunde als Witzfigur auf einer einzigen Tonlage durchs Geschehen marschiert, taugt Robert Gallinowski als bulliger Underdog-Lopachin mit ausdrücklich weichem Kern und angemessen geschmacksunsicherem Leinen-Jackett zweifelsohne am ehesten zur Identifikationsfigur. Wie ihn die bockbeinige Blindheit der Ranjewskaja gegenüber ökonomischen Zwängen innerlich in den Wahnsinn treibt, kann man schon deshalb sehr gut nachvollziehen, weil die Gutsherrin bei Cornelia Froboess jeden einzelnen Lopachin-Vorstoß mit dem gleichen hysterischen Lachausbruch quittiert. So verliert man bereits ziemlich früh jedwedes Interesse an ihrer Figur und schreckt total überrascht aus dem Sitz hoch, als sie kurz vor Schluss bei der Nachricht vom „Kirschgarten“-Verkauf von einem kleinen Weinkrampf heimgesucht wird.

Ranjewskajas Tochter Anja (Anna Graenzer) – bei Tschechow eine der interessantesten Figuren – beschränkt sich hier darauf, als dauerbeseelt lächelnde Streberin übers Szenario zu hüpfen. Und so hängt alles an Firs, dem alten Diener, der am Schluss von den Abreisenden einfach im Haus vergessen wird und den Jürgen Holtz zu einer Art heimlichem Hauptdarsteller macht. Wer in das Gesicht dieses Schauspielers schaut, der den grandios gespielten äußeren Verfall mit einer messerscharfen Textarbeit kontrastiert, erfährt mehr über Auf- und Abstiege, die Dialektik von Herr und Knecht und gesellschaftliche Umbrüche (beziehungsweise ihr Ausbleiben) als vom Rest dieser „Kirschgarten“-Gesellschaft zusammen.

Wieder am 31.10. sowie 15. und 18. 11.

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