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Die Jury. Sie sucht in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Unsere Autorin Christine Wahl ist die Dritte von rechts. Ihre Kollegen: Vasco Boenisch, Franz Wille, Ulrike Kahle-Steinweh, Wolfgang Höbel, Ellinor Landmann, Andres Müry (v.l.).

© Charlotte Menin

Theatergucken und Reisen: Die Qual der Wahl

Das Leben genießen in vollen Zügen und billigen Hotels: Unsere Autorin Christine Wahl ist Jurorin beim Theatertreffen. Um die besten Inszenierungen des Jahres herauszufinden, reist sie durch Theater-Deutschland. Logbuch einer fahrenden Kritikerin.

Kaum hat die Jury des Berliner Theatertreffens ihre Auswahl veröffentlicht, schlägt die Stunde der anonymen Kommentatoren im Netz. Letztes Jahr fragte sich zum Beispiel ein User im Forum des Theaterportals nachtkritik.de, hoch erfreut über die Einladung des Schauspielhauses Graz: „Wie ist es nur gelungen, die Kritikerärsche so weit in den Süden zu bewegen?“ Doch solche Komplimente sind eher selten. Würde man aus verschiedenen Einträgen mehrerer Jahrgänge eine Art Durchschnittsdiagnose sampeln, käme heraus, dass dieses „mafiotische, hirnverblödete Institut“ namens Theatertreffen-Jury über seiner „fetten Spesenrechnung im schönen 5-Sterne-Hotel“ wieder mal haargenau so „versagt hat wie seit Jahrzehnten“ schon.

Zu den sieben „Kritikerärschen“, die sich regelmäßig in den Süden, Norden, Westen und Osten des deutschsprachigen Raums bewegen, um die zehn „bemerkenswertesten Inszenierungen“ der Saison aufzuspüren, gehörte dieses Jahr auch meiner. Und die Erfahrung zeigt: Im Wesentlichen haben die User recht. Die Jurytätigkeit ist absoluter Luxus! Das kulturelle Kapital, das man im Laufe von zwölf Jurymonaten anhäuft, wenn man zu jedem Pucher nach Wien oder jeder Heller nach Dresden reisen kann, die einen interessiert, ist möglicherweise mit einem ganzen juryfreien Berufsjahrfünft nicht aufzuwiegen. Ich habe im letzten Jahr etwa hundert Aufführungen gesehen. Setzt man – was eher niedrig gepokert ist – pro Abend zwei Stunden an, verbringt man 200 Stunden im Jahr im Theaterparkett, also hochgerechnet etwa 30 Minuten am Tag.

Die allerdings muss man sich auch entsprechend hart verdienen, vor allem zur Jury-Hauptreisezeit im Winter. Letzten Dezember zum Beispiel – die Deutsche Bahn ist wegen des völlig überraschenden Schneefalls auf einem durchschnittlichen Verspätungslevel von drei Stunden angelangt – nehme ich zu Herbert Fritschs „Nora“ nach Oberhausen vorsichtshalber gleich den Frühzug. Für den Fall, dass die Bahn pünktlich wäre, hätte ich vor der Vorstellung noch sechs Stunden Zeit, mir das Tennismuseum und die König-Pilsener-Arena anzuschauen. Luxus pur also – zumal ich für unterwegs sogar einen Sitzplatz reserviert habe, um schnell noch eine meiner „immer dünner werdenden ICE-Kritiken“ runterzurocken. Hilft ja nichts: Der Vorabend-Peymann muss für den Tagesspiegel besprochen werden.

Über die Reservierung – Wagen 4, Fenster – bin ich umso glücklicher, als ich die Rolltreppe zum Bahnsteig herunterfahre. Dort sieht es nämlich aus wie in den besten Tagen der Anti-Akw-Demos. Da man kaum zur Plattform hin, geschweige denn auf ihr vorankommt, quetsche ich mich direkt an der Rolltreppe – Wagen 16 – in den Zug. Wir fahren bereits in Wolfsburg ein, als ich mich endlich bis zum Wagen 6 durchgerempelt habe – und direkt vor der Lok stehe. „Die Wagen 1 bis 5 sind heute nicht mitgekommen“, motzt der Schaffner im Vorbeigehen und drückt mir drei eng bedruckte Formulare in die Hand. „Die geben Sie an Ihrem Zielbahnhof beim Service Point ab, dann bekommen Sie Ihr Geld für die Reservierung zurück.“

Mein Einwand, dass ich für die zwei Euro fünfzig jetzt eigentlich lieber irgendwo sitzen würde (zumal die „ICE-Kritik“ langsam wirklich drängt) geht im allgemeinen Fahrgastgeschrei unter. Die gefürchtete Sardinenbüchse ist ein Tanzsaal gegen diesen Großraumwagen: Als mein Handy klingelt, muss ich meinem rechten Mitreisenden mehrere Rippenstöße versetzen, um mit der Hand in die Manteltasche zu gelangen. Es ist die Redaktion; freudig: „Wir haben heute mal richtig Platz; du kannst ruhig ein bisschen länger schreiben!“

Keine Ahnung, wie der mobile Arbeitstag ausgegangen wäre, wenn mir nicht eine weitere Stunde später, in Hannover, ein freundlicher Mensch beim Aussteigen qua logistischer Meisterleistung seinen Sitzplatz zugeschanzt hätte. In Essen werde ich – der UTMS-Stick ist zurzeit mein wichtigstes Accessoire – den Peymann endlich los. Wäre es nach der Bahn statt nach dem Redaktionsschluss gegangen, hätte ich locker noch einen zweiten Text schreiben können: Der Zugchef ist mittlerweile dazu übergegangen, an jedem Haltebahnhof sämtliche sitzplatzlosen Fahrgäste per Lautsprecher zum Aus- und Umstieg auf einen „demnächst bereitstehenden Ersatzzug“ zu ermuntern. Andernfalls führe er – zu unserer eigenen Sicherheit – nicht weiter.

Es ist neunzehn Uhr dreiundfünfzig, als ich in Oberhausen aus dem Zug steige: Im Grunde hat „Nora“ überhaupt keine Chance. Aber die nutzt sie. Ibsen in Oberhausen ist männerfeindlich, frauenfeindlich, kurz: rundum adäquat misanthropisch – und zudem ein genialer Horrortrip à la Hitchcock. Überhaupt bin ich von Reisen in die sogenannte Provinz selten grimmig zurückgekehrt. Dort wird zwar in aller Regel nicht die Avantgarde erfunden. Aber wenn man in Cottbus, Chemnitz oder Magdeburg – vorbei an abgeschotteten Häusern und leeren Kneipen – ins hell erleuchtete Theater kommt und neben einer Gymnasialklasse sitzt, die in weißen Blusen und gebügelten Hemden mucksmäuschenstill den „Faust“ verfolgt, weiß man plötzlich wieder ganz genau, warum die Welt Theater braucht.

Überhaupt verdanke ich dem neuen Job jede Menge interessanter Perspektivwechsel und Umwälzungen in meinem Arbeitsalltag. Wenn ich früher beim Schreiben in eine intellektuelle Sackgasse geriet, klickte ich mich durch diverse Liveticker und war sekündlich auf dem Laufenden, wann Guttenberg zurücktritt und ob der FC Bayern München auch ja schön dabei ist zu verlieren. Jetzt treibe ich mich auf dem Hotelportal HRS herum. Denn kaum ist die optimale Theater-Tourkoordination zwischen Dessau, Basel und Wiesbaden für diese Woche abgeschlossen, wartet die sportliche Herausforderung, für die nächste in München, Köln oder Hamburg eine bahnhofs- wie theaternahe Übernachtung mit Frühstück für sechzig Euro zu finden. So will es das Bundesreisekostengesetz. Meine schöpferischen Pausen haben sich seither verzehnfacht.

Die größte Perle, auf die ich über das Hotelportal gestoßen bin, liegt in Halle. Denn dort traf ich Manfred. Manfred – gestreiftes T-Shirt, Hornbrille und Brustbeutel – betritt mit einem fröhlichen „Guten Morgen, Manfred mein Name“ den Frühstücksraum und steuert zielsicher auf mich zu: „Gehen Sie auch zum Prinzen-Konzert?“ Er schenkt mir Kaffee nach und beginnt, an seinem Brustbeutel zu nesteln, bis er endlich eine klein gefaltete Klarsichthülle vorgekramt hat, der er einen Briefumschlag entnimmt: die Konzertkarte. „Mein Betreuer hat mir den Weg aufgezeichnet“, berichtet Manfred stolz und führt mir seinen Behindertenausweis vor. Dann überlegt er eine Weile. „Aber was machen Sie denn dann überhaupt in Halle, wenn Sie nicht zum Prinzen-Konzert gehen?“ Ich erzähle ihm, dass ich gestern im Theater war und eine tolle Produktion mit Schauspielstudenten gesehen habe. Manfred schaut skeptisch. „Warum?“, will er wissen. „Beruflich“, sage ich, „ich bin Theaterkritikerin“. Manfred lacht schallend. „Ihr Beruf ist Theater? Was es nicht alles gibt!“ Dann geht Manfred wieder lange in sich. Plötzlich huscht ein Lächeln über sein Gesicht: „Sind Sie auch behindert?“

An Manfred denke ich jetzt oft, wenn ich irgendwo zwischen Jena Paradies und Ingolstadt auf einer oberleitungsbeschädigten Bahnstrecke herumstehe oder zwischen Rostock und Stuttgart im Theater sitze: Was es nicht alles gibt! Mummenschanz, Hanswurstiaden, als politisches Theater getarnte Volkshochschulkurse, formstrengste Antiken-Statik, Liederabende. Warum ich ausgerechnet die Prinzen auslasse, wenn ich doch auf der Suche nach dem Bemerkenswerten sei, wollte Manfred wissen. In der Tat: Je weiter ich durchs deutschsprachige Theaterland reise, desto schwieriger ist die Frage schlüssig zu beantworten.

Meine wesentliche Jury-Erkenntnis besteht in der lebenspraktischen Bestätigung der Tatsache, dass die Negation ein Kinderspiel ist gegen das Positivum. Das Nichtbemerkenswerte entlarvt sich tausendmal einfacher als das Bemerkenswerte. Wann hohe Qualität in außergewöhnliche kippt, lässt sich, wenn man ehrlich ist, in allerletzter Konsequenz wahrscheinlich nur subjektiv beantworten.

Die Frage jedenfalls, ob man die Jurykollegen zu Begeisterungsstürmen animiert oder aber zu heimlichen Mordgedanken, wenn man sie kurz vor Weihnachten, bei minus zwanzig Grad, Bahnstreik und mit einem halb fertigen Peymann im Laptop zu einer in den eigenen Augen grandiosen Inszenierung geschickt hat, ist immer wieder spannend. Denn was fürs Theater gilt, gilt natürlich auch für uns Kollegen: Was es nicht alles gibt ... – Gut so!

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