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Kampf der Kulturen. Szene aus „Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung“ nach dem Albert-Camus-Antiroman von Kamel Daoud.

© Judith Buss/Kammerspiele

Theaterkrise an Bayerns bester Bühne: Münchner Kummerspiele

Buh-Rufe, Regie-Absage, Kündigungen: Die Münchner Kammerspiele unter Matthias Lilienthal stecken in der Krise.

„Was ist denn die Vision?“, fragt die Kritikerin Christine Dössel den Theatermann Matthias Lilienthal. Der Intendant der Münchner Kammerspiele hat mittlerweile eine Grundsatzdebatte am Hals. Er versucht zu antworten. Er sagt, dass er sich jeden Tag 14 Stunden in der Stadt aufhält, dass er sich „extrem für München interessiert“. Er berichtet vom Migrantenanteil, der bei 37 Prozent liegt – höher als in jeder anderen deutschen Großstadt –, und dass er die Themen Flucht und Migration als Vision in sein Haus bringen will. Er lobt die Zusammenarbeit von freien Gruppen und den angestellten Hausschauspielern, spricht von einem „Ensemble im Aufbruch“. Und doch verteidigt sich Lilienthal immerzu.

Gegen die Wand

Seit zwei Wochen herrscht in München der Theaterstreit. Die Grundfrage lautet: Macht der Berliner Matthias Lilienthal, der im Herbst vergangenen Jahres angefangen hatte, zu viel Performance, zu viel Experiment und zu wenig von dem, was man als klassisches Sprechtheater bezeichnet? Und besteht die Gefahr, wie Christine Dössel, Redakteurin der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ), befürchtet, „dass hier ein Theater an die Wand gefahren wird“?

Aus einzelnen Ereignissen, die allein für sich genommen wenig Bedeutung haben, hat sich an der Isar ein ganzer Packen schlechter Nachrichten gehäuft. Angefangen hat es mit einer geplatzten Inszenierung. Der junge französische Star-Regisseur Julien Gosselin wollte ein Doppelwerk von Michel Houellebecq auf die Bühne bringen: „Unterwerfung/Plattform“. Die Kammerspiele hatten sich einen ganz großen Wurf erwartet, eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Islam. Doch Gosselin verließ München fluchtartig. Als Hauptgrund wird genannt, dass der Regisseur davon ausgegangen sei, die Schauspieler die ganze Zeit allein für sich zu haben. Diese waren und sind aber auch im laufenden Spielbetrieb eingebunden. Es folgte die Kündigung der langjährigen und beliebten Kammerspiele-Schauspielerin Brigitte Hobmeier zum Ende der Saison. Die sagt, sie fühle sich bei Lilienthal „wie auf dem Abstellgleis“. Ebenfalls verlassen die Darstellerinnen Katja Bürkle und Anna Drexler das Haus.

Zum großen und bedeutendsten Schlag holte dann Christine Dössel in der SZ aus. Unter der Überschrift „Kammerspiele? Jammerspiele!“ rechnete sie ziemlich grundsätzlich und scharf ab. Früher habe es an der Maximilianstraße „noch Schauspieltheater“ gegeben, schreibt sie, und „teils sogar richtige Stücke“. Jetzt sei das meiste „Mittelmaß, harmlos, oberflächlich, simpel: Pipifax-Theater mit dem Anspruch, erklärend, belehrend und gerne auch migrationshintergründig sozial, global und politisch korrekt zu sein“. Die Kammer 2, der kleinere Aufführungsraum des Theaters, am Sonntagabend. Die Besucher drängen sich, 500 sind es, wegen Überfüllung wird die Veranstaltung auch in die Kantine übertragen. „Welches Theater braucht München?“, fragt das Haus, und es diskutieren Matthias Lilienthal, Christine Dössel, die Schauspielerin Annette Paulmann sowie ein „Abendzeitungs“-Journalist.

Matthias Lilienthal, 56, leitet die Kammerspiele seit 2015.
Matthias Lilienthal, 56, leitet die Kammerspiele seit 2015.

© picture alliance / dpa

Es geht gleich recht aggressiv los, wenn sich Dössel gegen den Vorwurf der „Hetzkampagne der SZ“ verwahrt und ihre Arbeit so beschreibt: „Das nennt man Journalismus.“ Auch von den eigenen Kollegen bekomme sie „bashing“, manche von denen seien in den Theaterbetrieb „embedded“, also eingebettet. Schauspielerin Paulmann meint zu Dössels Artikel: „Das verstehe ich nicht unter Recherche.“ Dössel: „Sie wissen, dass ich über Sie als Künstlerin geschrieben habe?“ Paulmann: „Ich bin nicht doof.“ Man hat es in diesem Milieu mit vielen Eitlen und leicht Beleidigten zu tun, wozu durchaus auch das Publikum zählt.

Es ist dahingestellt, ob es klug ist, die Kritikerin selbst quasi als Stein des Anstoßes und als Zielscheibe auf das Podium zu setzen, oder ob die Zeitung nicht lieber etwa einen vorgesetzten Kultur-Kollegen hätte schicken sollen. Dössel jedenfalls macht weiter mit ihrer Lilienthal-Kritik: Die freien Gruppen von denen sich der Intendant Schwung erwartete – etwa SheShePop aus Berlin – hätten in München „ihre schlechtesten Arbeiten abgeliefert“. Den Schauspielern am Haus mangele es an „Betreuung und Fürsorge“, man lasse sie „am ausgestreckten Arm verhungern“. Das Wort Kunst scheine „verpönt“. Und: „Theater sollte schon auch Theater machen.“ Dünner Beifall, viel Aufgestöhne und Buh-Rufe.

Viele Eitle, leicht Beleidigte

Matthias Lilienthal, der sich als Avantgardist und langjähriger Intendant des Berliner HAU-Theaters einen großen Ruf erworben hat, sieht die Lage völlig anders. Er sei „unendlich dankbar für die Schauspieler“, meint er, es gebe keine Auseinandersetzungen zwischen altem und neuem Ensemble. Seine Veränderungen begreift er „nicht als riesenhaften Bruch“, die Zusammenarbeit mit freien Gruppen habe sich „extrem gut bewährt“. Auch einen Zuschauerrückgang kann er nicht feststellen: 153000 Besucher gab es in der vergangenen Saison, das sei der Schnitt der letzten zehn Jahre.

Es existieren offenbar unterschiedliche Wahrnehmungen. Lilienthal verweist auf „drei bis vier großartige Aufführungen pro Spielzeit“, was sehr gut sei. Houellebecq ist geplatzt, doch im Oktober gab es „Der Fall Mersault“ (Kamel Daoud), im neuen Jahr stehen Shakespeares „Hamlet“ sowie „Der Kirschgarten“ von Tschechow an. Außerdem wird weiterhin „Wut“ von Elfriede Jelinek gegeben – für Lilienthal „absolutes Gegenwartstheater“.

Die meisten Besucher stehen zu dem Intendanten, der um drei Jahre Zeit für sein „Theaterexperiment“ bittet. Andere aber vermissen „Sprechtheater“, eine Frau kritisiert: „Es wird sich einer abperformed, dass man ohnmächtig wird.“ Ein Gutes hat der Theaterstreit für Lilienthal: Das Interesse an den Kammerspielen ist rasant gestiegen, in der vergangenen Woche wurden doppelt so viele Karten verkauft wie sonst üblich.

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