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Theaterkritik: Das launische Kind

Wiener Festwochen: Luc Bondy spielt mit „Helena“, einem vergessenen Drama von Euripides.

Auch Tragiker brauchen mal eine Auszeit, gerade in finsteren Zeiten. Euripides hatte seinen Athenern nach dem sizilianischen Eroberungsabenteuer, das in der Katastrophe endete, 415 v. Chr. mit den „Troerinnen“ die Leviten gelesen. Drei Jahre später schickte er der Tragödie ein Satyrspiel hinterher, „Helena“, in dem er die homerische Version vom Anlass des trojanischen Krieges bitter-satirisch konterkarierte.

Die schöne Helena ist gar nicht von Paris nach Troja entführt worden, Hera, durch ihre Zurücksetzung beim Paris-Urteil gekränkt, schob dem trojanischen Königssohn ein Phantom unter. Die echte Helena wurde per Hermes-Luftfracht auf die ägyptische Insel Pharos spediert, wo sie am Hofe des Königs Proteus mit ein paar griechischen Sklavinnen in steter Ungewissheit dahinlebt. Wie geht der um sie geführte Krieg aus? Sieht sie ihren Gatten Menelaos je wieder, dem sie in Wahrheit treu anhängt?

Der Frauenversteher Euripides tut ihr mit dieser Rehabilitation nicht wirklich einen Gefallen. Birgit Minichmayr, die die Rolle jetzt in Luc Bondys Festwochen-Produktion am Wiener Burgtheater in der Neuübersetzung von Peter Handke spielt, bekommt es zu spüren. Zweieinhalb pausenlose Stunden lang sucht sie auf der riesigen Schräge von Karl-Ernst Herrmann eine Figur. Und rettet sich in ihrem langen, mehr ent- als verhüllenden weißen Fließgewand in wechselnde Posen: mal trauernde Tragödin (Ach, ich bin an dem ganzen Unheil schuld!), mal schmollende BB (Ich kann doch nichts dafür, dass ich so sexy bin!). Für eine Authentizitätsschauspielerin erkennbar ein Dilemma.

Bondy hilft ihr wenig. Er scheint bei seinen dekorativen Arrangements ständig darauf zu warten, dass endlich die Musik einsetzt – am besten von Jacques Offenbach. Ansonsten verhält er sich gegenüber dieser Dramaturgen-Ausgrabung – „Helena“ wird kaum je gespielt – wie ein bücherschmökerndes, launisches Kind. Ins selbstironische Bild gebracht: Links steht ein Bücherturm, aus dem sich zehn hübsche College-Girls (der Chor) alte Folianten angeln, um sie an aufgereihten Stehlampentischchen stirnrunzelnd oder kichernd zu studieren.

Auftritt Ernst Stötzner als Menelaos, schiffbrüchig dem Meer entstiegener Sieger von Troja, unrasiert, muskelbepackt, burgtheaterfüllend dröhnend – und wieder ist unklar: Ernst oder Parodie? Immerhin gelingt die Agnorisis-Szene anrührend, in der sich das alte Ehepaar, das sich 17 Jahre nicht gesehen hat, tastend, zweifelnd, schließlich handgreiflich wiedererkennt. Wobei Menelaos die Augen dafür geöffnet werden müssen, dass es die „falsche“ Helena ist, die er in einer Strandhöhle zurückließ.

Jetzt nimmt Euripides eine Kurve, die direkt in die Feydeau’sche Farce zu führen scheint. Dazu muss der junge Ägypter-König – das Grab seines Vaters Proteus’ liegt noch offen mit frischer Erde an der Rampe – bei Handke „ganz wild“ sein auf die schöne Fremde, die (bei Bondy) spärlich bekleidet vor ihm auf keusch macht: Johann Adam Oest, von „Wild Thing“ aus allen Boxen krachend begleitet, ist ein kalaschnikowbewehrter Kleinstaatdikator mit Tatoo und Ray-Ban-Brille. Nicht ganz überraschend bremst ihn die plötzlich ausgebuffte Helena mit allen Tricks aus.

Der tumbe Menelaos darf brav mitspielen: Er wird zum Boten umfunktioniert, der Menelaos’ Tod berichtet. Helena wirft sich in Trauerschwarz, erfindet blitzschnell den attischen Ritus des Schiffsbegräbnisses, zu dem sie als Witwe verpflichtet sei, und der vor Gier blinde Barbar stellt tatsächlich ein Boot zur Verfügung, in dem sich Helena, der falsche Bote und der Rest der gestrandeten Griechenmannschaft gen Sparta davonmachen.

Schlüsselfigur dieser rasanten Coda ist die Schwester des Barbarenkönigs, die Seherin Theonoe – bei Andrea Clausen eine robbende, kahlschädelige, tragödinnenbibbernde Schlagenmenschin. Statt Menelaos gemäß ihrer religiösen Pflicht zu enttarnen, entscheidet sie sich für Recht und menschliche Vernunft – Kern der Euripideischen Religionskritik. Um den blindwütigen Bruder vom Mord an ihr abzuhalten, braucht es dann aber doch den Deus ex machina: Die Dioskuren, Helenas Brüder, lassen vom Himmel zwei riesige Meteoriten ins Bühnenbild krachen.

Ist mit diesem Ende alles gut? Der verspielte Regisseur, dem Tragischen schon immer abhold, versammelt alle Übriggeblieben, sogar den Barbarenkönig, in der Bibliothek und lässt sie in den alten Geschichten schmökern. Aus der Tiefe kommt, wieder in Weiß, Helena angeschlendert: alles nur ein Trugbild der Literatur. So steht der Nachweis aus, hier wäre ein zu Unrecht vergessenes Drama zu entdecken. Achtungsapplaus für die Schauspieler, Buhs für Bondy.

Andres Müry

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