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Theaterpreis: Die Hummer-Nummer

In Breslau wurde der Europäische Theaterpreis verliehen, an Krystian Lupa. Skandal machten andere

Am Ende gibt es doch noch einen kleinen Skandal bei der Verleihung des Europäischen Theaterpreises in Wroclaw. Eine politisch bewegte Öffentlichkeit protestiert mit eilig verfertigten Flugblättern gegen einen der Ausgezeichneten: Der 45-jährige spanische Theatermacher Rodrigo García, der sich mit vier Kollegen den „kleinen“ Preis für „Neue Theaterrealitäten“ teilt, ruft Tierschützer auf den Plan. Denn wenn der Metzgerssohn García erklärt, seine Kunst beziehe sich auf die Profession seines Vaters, indem sie „das Fleisch und Blut der modernen Gesellschaft“ anpacke, ist das erst in zweiter Linie metaphorisch gemeint. In erster bedeutet es: Keine García-Performance beim Theaterpreis-Festival, in der nicht zu höheren didaktischen Zwecken mindestens ein real existierendes Nagetier um sein Überleben strampelt.

Der konsumkritische 70-Minüter „Scatter my Ashes over Mickey“, der in seinem Provo-Furor an die Achtziger-JahrePerformances der spanisch-katalanischen Schocktheatertruppe La Fura dels Baus erinnert, lässt zwar – unterlegt von philosophisch inspirierten Textfragmenten à la Heidegger – auch keinen wohlkalkulierten Schockeffekt am Menschen aus. Einer jungen Frau wird auf offener Bühne eine Glatze geschoren, während sich zwei Kollegen mit sichtlicher Hektik bereits die Genitalien kopulationsbereit rubbeln, bevor sie notgeil – und ziemlich ausdauernd – übereinander herfallen.

Aber als ein Performer immer wieder zwei Hamster in ein Aquarium wirft und man den panischen Nichtschwimmern minutenlang beim Existenzkampf zusehen muss, stürmt eine Kritikerin auf die Bühne, kanzelt den Performer ab und verlässt türenknallend die Aufführung – um, wie es gerüchteweise heißt, García bei der nächsten Polizeistation wegen Tierquälerei anzuzeigen. Dabei ist die Hamster-Nummer nichts gegen Garcías Performance „Accidents (Killing to eat)“: die 25-minütige Folter mit finaler Hinrichtung eines echten Hummers, der auf dem Elektrogrill noch nach der Amputation diverser Gliedmaßen und martialischer Zweiteilung mit unerträglich gut funktionierenden Reflexen um sich schlägt.

Der Skandal um García ist umso bemerkenswerter, als er aus dieser polnischen Festivalwoche komplett herausfällt. In Breslau, wo das gewohnt chaotische, in den 90er Jahren in Taormina gegründete und von der EU mitgetragene Festival „Premio Europa per il Teatro“ nach Stationen in Turin und Thessaloniki diesmal ausgetragen wurde, war die Kunst tendenziell eine kontemplativ-innerliche Angelegenheit. Ein größerer García-Antipode als der Hauptpreisträger Krystian Lupa ließe sich also kaum denken: Dieser lebende Säulenheilige des polnischen Theaters, dem seine Landsleute schon Ovationen entgegenbringen, wenn er nur durchs Foyer schreitet ( Peymann und Co. würden vor Neid erblassen) und der sich als europäischer Theaterpreisträger nun in die große Namensliste von Ariane Mnouchkine über Peter Brook und Pina Bausch bis zu Giorgio Strehler oder Robert Wilson einreiht, provoziert eher durch den aufreizenden Rückzug ins fein ziselierte Schauspiel.

Lupa gehört zu jenen Regisseuren, die in dem gründeln, was man gemeinhin die allzumenschliche Essenz nennt: Er kann selbst Werner Schwabs „Präsidentinnen“ noch inszenieren, als handele es sich um Tschechows „Drei Schwestern“. Und dafür nimmt er sich sehr viel Zeit. Die großen Romanadaptionen, für die Lupa berühmt wurde – Bulgakows „Meister und Margarita“ oder Dostojewskis „Brüder Karamasow“ –, erreichen durchschnittliche Arbeitstaglänge. In jeder Hinsicht exemplarisch: der Abend „Factory 2“, in dem sich eine von Warhols Factory inspirierte Künstlercrew auf ausgesuchtem schauspielerischen Niveau ausgiebig in sich selbst versenkt, angefangen beim erotischen Verhältnis zum eigenen Achselschweiß.

Im Gegensatz dazu ist „Persona“, Lupas Triptychon über die bemerkenswerten Persönlichkeiten Marilyn Monroe, Simone Weil und Gurdjieff, das am Preisabend als Höhepunkt in einer Art Durchlaufprobe in Anwesenheit des Regisseurs gezeigt wurde, mit schlappen drei Stunden ein echter Quickie. „Den europäischen Theaterpreis bekommt ein Pole, weil wir hier in Polen sind“, witzelte anschließend der überhaupt sehr zu Jokes aufgelegte Bürgermeister Wroclaws, Rafal Dutkiewicz, in seiner Preisverleihungsrede. Und schiebt – weil das mit Politik und Ironie bekanntlich ja immer so eine Sache ist – schnell nach: Nein, nein, Lupa ist natürlich einzigartig. Tatsächlich hat er den mit 60 000 Euro dotierten Preis quasi für sein Lebenswerk bekommen: Bei der aktuellen Produktion war für ein Preis-Stück jedenfalls noch jede Menge Raum zur Steigerung nach oben. Premiere ist aber auch erst im Juni.

Lupa, sagt der Leiter des Grotowski-Instituts Jaroslaw Fret, nimmt sich gern mal ein Jahr Zeit zum Proben. Immerhin das hätte Grotowski, der in Wroclaw ja sein Theaterlaboratorium für ein „armes“, also illusionsfreies, in jeder Hinsicht unmaskiertes und -kostümiertes Theater als menschliche Selbsterfahrung auf höchstem Niveau betrieb, sicher bestens verstanden. Im Grotowski-Jahr 2009 – dem 50. Jahrestag der Gründung des Werkstatt-Theaters sowie dem 10. Todestag Grotowskis – ist das Grotowski-Institut, das seine Traditionspflege wirklich vorbildlich als lebendigen Dialog statt als betonierte Denkmalkunst betreibt, natürlich grundlegend an den Theaterpreisfeierlichkeiten beteiligt.

Logisch, dass der aufgeweckte Fret eine gewisse Enttäuschung über die Preise für die „neuen Theaterrealitäten“ nicht ganz verhehlen kann. Denn das Neue kam hier – mit Verlaub – ziemlich abgehangen daher. Und das, obwohl dieses Jahr – fast eine Inflation – gleich fünf Theatermacher diesen Preis bekamen (weshalb das Festival von gewöhnlich vier auf sechs Tage verlängert wurde): Neben García teilte sich der in Berlin gut bekannte Ungar Arpad Schilling die Ehrung mit Guy Cassiers, dem Intendanten des Toneelhuis Antwerpen, sowie dem Franzosen Francois Tanguy und seinem Théâtre du Radeau. Man sah von ihnen solide Monologe und viel Aufgewärmtes: Der fünfte Preisträger, Pippo Delbono, war gar mit einer 23 Jahre alten TwoMen-Performance angereist, die – gemessen am Titel „Neue Theaterrealitäten“ – nur als Parodie gemeint sein konnte: Man unterhält sich über die Zuschauererwartung und betont, dass man in einer Experimentalperformance sei.

Einmal quer über den Rynek, Wroclaws pittoresk restaurierten Marktplatz, gibt es unterdessen echte polnische Theaterrealität zu sehen, fernab vom Festivalalltag. Hier probt der Regisseur Wojtek Klemm – Ex-Assistent von Frank Castorf – mit einer Mischung aus äußerer Volksbühne und in Deutschland bei diesem Sujet undenkbarer innerer Ernsthaftigkeit die polnische Erstaufführung von Heiner Müllers „Zement“. Im Publikum beim letzten Durchlauf vor der Premiere: hoch konzentrierte Schüler und Studenten; man könnte eine Stecknadel fallen hören.

Also: Auf zu den nächsten europäischen Theaterrealitäten, 2010 in Istanbul.

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