zum Hauptinhalt
Merken sie es, diskutieren sie es? Thomas Hoepkers „Blick von Williamsburg auf Manhattan. Brooklyn, 11. September 2001“, ab heute in der Ausstellung „Unheimlich vertraut“ in der Galerie c/o Berlin zu sehen. Foto: Hoepker/Magnum

© Magnum Photos, New York

Raserei und Stillstand: Thomas Hoepkers 9/11-Foto und seine Geschichte

Auf der anderen Seite: Als vor zehn Jahren zwei Flugzeuge in das World Trade Center krachten, befand sich der Fotograf Thomas Hoepkers scheinbar am falschen Ort. Trotzdem drückte er den Auslöser.

In Amerikas Verfassung ist seit über 200 Jahren eine wirkungsmächtige Utopie festgeschrieben: das Recht auf Glück. Damit wird auch Schutz vor Unglück versprochen. Am 11. 9. 2001 wurde dieses Versprechen Lügen gestraft. Der Magnum-Fotograf Thomas Hoepker war damals, wie es scheint, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Er befand sich frustrierend weit weg vom World Trade Center auf der anderen Seite des Wassers, am Williamsburger Kai. Er machte drei Aufnahmen, drei Farbdiapositive. „Ich weiß nur“, sagt er, „dass ich unter Schock stand. Ich war verwirrt, verängstigt, orientierungslos, emotional, versuchte aber, mich aufs Fotografieren zu konzentrieren.“

Am 12. September hatten sich Magnum-Fotografen in Manhattan zu einem Meeting versammelt. Es gab Fotos in Hülle und Fülle. Bei der Durchsicht seiner Farbdias legte er die drei Aufnahmen aus Williamsburg zunächst zur Seite. Im Vergleich zu den dramatischen Nahaufnahmen seiner Kollegen erschienen sie ihm nicht relevant. „Ich wusste, wie intensiv die New Yorker am Leid der betroffenen Familien und an den Heldentaten der Feuerwehrleute, der Polizisten und der anonymen Helfer Anteil nahmen. Diese Aufnahme erschien deplatziert.“

Dabei ist es ein großes Historienbild, das wurde später klar: Hoepker hatte die Katastrophe von 9/11 von einem Logenplatz aus miterlebt. Über schiffloses Wasser geht der Blick, dorthin, wo die Türme bereits rauchend zusammengestürzt waren. Man braucht die Katastrophe im Bildhintergrund nur zu verdecken, schon hat der Betrachter im Vordergrund eine eher urkalifornische Szenerie. Nette junge Leute, entspannt, auf der sicheren Seite: ein Paradies. Zwischen ihnen ein Rennrad, Bewegung im Stillstand. Nichts deutet darauf hin, dass sie gerade eine Mega-Katastrophe verfolgen. Aber ist es auch so? Als Hoepker das Bild veröffentlichte, löste es heftige Kontroversen aus. Er sei ein Nazi-Apologet, vertrete europäischen Anti-Amerikanismus. Das Bild sei ein tendenziöser Kommentar, eine Fälschung gar, hieß es in Amerika. Zwei der Abgebildeten, eine junge Frau und ihr Freund, beklagten sich im Internet. Sie hätten sich im Gegenteil engagiert mit der Gruppe über die Katastrophe ausgetauscht. Hoepker dazu: „Die blonde Frau schrieb, sie sei selbst Fotografin und würde ihre Modelle immer um Erlaubnis fragen. In diesem Punkt erlaube ich mir, anderer Ansicht zu sein. Als Fotojournalist setze ich alles daran, die Ereignisse, deren Zeuge ich bin, nicht zu beeinflussen. Würde man ein Gespräch beginnen oder um Erlaubnis bitten, dann würde man jede authentische Situation im Nu verändern. Misch dich nicht ein, lautet ein zentrales Credo der Dokumentarfotografie.“

Beunruhigend an dem Foto ist die fehlende Eindeutigkeit. Es zeigt Überforderung, Überwältigung, den Moment zwischen Sehen und Begreifen eines beispiellosen Geschehens. Der Betrachter sieht sich Bruchstücken von Realität konfrontiert, die nicht zusammenpassen. Es gibt keine Gewissheit. Was Surrealisten wie Max Ernst in Collagen vorführten, ist hier dokumentiert. Viele Amerikaner, sagt Hoepker, mögen dieses Bild bis heute nicht. Ihr Selbstbildnis sieht anders aus: „Es entsprach keiner unserer Standardvorstellungen, wie ein 9/11-Foto aussehen sollte.“ Der Satz artikuliert das Dilemma aller Dokumentar-Fotografen. Hoepkers Magnum-Kollege Martin Parr bringt es auf den Punkt: „Ich wollte die Dinge immer so zeigen, wie ich sie vorfinde, nicht wie wir sie uns vorstellen. Warum sollte ich lügen?“

Fünf junge Amerikaner: Das Foto zeigt ein zufälliges Zusammentreffen. Zufall auch die Anwesenheit des Fotoreporters, der nicht nach Lower Manhattan kam. Aber der 1936 geborene Hoepker hatte Amerika schon lange studiert. Seine Schwarz-Weiß-Bilder, Ergebnis einer Reise durch die Provinz 1963, seine Beobachtungen von Stillstand, Einsamkeit, Verwirrung, Trotz und Ermattung hatte man im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht für möglich gehalten. John F. Kennedy wurde damals erschossen, Hoepker war gerade 27 Jahre alt. Seit vielen Jahren lebt er in New York, sein Bild vom 11. September ist kein Zufallstreffer.

Manhattan war an jenem Tag zur Toteninsel geworden. In Thomas Hoepkers Foto fand sie ihren Chronisten. Er hat, bewusst oder nicht, wie ein Historiker gehandelt: Er wartete ab, ließ die Geschichten zu Geschichte werden. Auch davon erzählt sein Bild, vom rasenden Stillstand Amerikas am 11. September 2001.

„Unheimlich vertraut. Bilder vom Terror“. C/O Berlin, International Forum for Visual Dialogues. Vom 10. 9. bis 4. 12. 2011 im Postfuhramt , Oranienburger Straße 35/36. tgl. 11-20 Uhr .

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false