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Kultur: "Tim und Struppi in der Sowjetunion": Das erste Abenteuer des Reporters eröffnet eine auf 19 Bände angelegte Hergé-Werkedition

Gefährliche Zeiten waren das, als in der Sowjetunion die Oktoberrevolution gesiegt hatte. Wer seine bürgerliche Nase zu tief in volkseigene Angelegenheiten steckte, musste damit rechnen, umgehend als konterrevolutionäres Element an die Wand gestellt zu werden.

Gefährliche Zeiten waren das, als in der Sowjetunion die Oktoberrevolution gesiegt hatte. Wer seine bürgerliche Nase zu tief in volkseigene Angelegenheiten steckte, musste damit rechnen, umgehend als konterrevolutionäres Element an die Wand gestellt zu werden. Doch im Comic folgte auf das "Peng!" aus den Mündungsrohren dann bloß ein "Kchch..." vom Deliquenten: Tim, der clevere Reporter, hatte das Schieß- gegen Niespulver ausgetauscht, und Struppi, sein unerschrockener Terrier, musste nur so tun, als würde er tapfer sterben. Ausgerechnet "im Lande der Sowjets" begannen im Januar 1929 die Abenteuer des berühmtesten Mensch-und-Hund-Gespanns des 20. Jahrhunderts. Für "Le Petit Vingtième", die Kinderbeilage der Brüsseler Tageszeitung "Le XXième Siècle", schickte der Zeichner Hergé Tim und Struppi von Belgien aus über Berlin und Moskau bis nach Sibirien, und weil das Mutterblatt stockkonservativ war, fiel auch der flott gestrichelte Reisebericht stramm antikommunistisch aus. Auf Schritt und Tritt werden der knickerbockerhosige Held und sein schnüffelnder Begleiter von den Tschekisten verfolgt. Sie werfen Bomben, Messer und Motoren auf ihn, mischen Gift in sein Essen, lassen ihn in kalten Verliesen darben und von chinesischen Mönchen foltern, und einmal - besonders fies - legen sie sogar eine Bananenschale in seinen Weg. Aber Tim, dieses Musterbeispiel eines investigativen Journalisten, ist stets auf der Hut. Wenn seine Eisenbahn explodiert, baut er sich eine Draisine, wenn er am Kaukasus festfriert, lässt er sich von den Kosaken abschleppen. Was ihn antreibt - zu Wasser, zu Lande und in der Luft - ist sein Berufsethos: den Leser "über aktuelle Dinge stets auf dem Laufenden zu halten", wie es in der Vorrede heißt. So wird Tim Zeuge einer Volksversammlung auf dem Lande: Die Apparatschiks lassen mit gezücktem Revolver die Einwohner zur Wahl antreten. Und wo sich eine Delegation von englischen Kommunisten bei einer Fabrikbesichtigung von rauchenden Schornsteinen blenden lässt, schaut er einfach mal in die gähnend leere Werkhalle: Genossen verbrennen Stroh und machen demonstrativ Lärm auf Blechstücken. Als er "Tim und Struppi in der Sowjetunion" zeichnete, kannte Hergé das rote Reich nur vom Hörensagen. Das Buch "Moskau ohne Schleier" des belgischen Konsuls Joseph Douillet war die Hauptquelle seiner Imagination. Mit dem Sowjet-Abenteuer, ergänzt um einige Episoden des Tim-Vorläufers Totor, eröffnet der Carlsen-Verlag eine auf 19 Bände angelegte Hergé-Werkausgabe (184 Seiten, 64 Mark): ein ironischer Held in unironischen Zeiten.

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