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Kultur: Titel, Theben, Temperamente

Staatsaffäre für Anfänger: Jan Bosses "Antigonae/Hyperion" am Berliner Gorki Theater widmet sich der Psychologie, nicht der Politik.

Was auf den ersten Blick nach Räumungsverkauf in der Textilabteilung bei Woolworth aussieht, entpuppt sich auf den zweiten Blick als thebanisches Schlachtfeld. Auf der Bühne des Maxim-Gorki-Theaters liegen unzählige bunte Klamottenberge herum. Und da auch im Zuschauerraum haufenweise alte Strickjacken, Seidenschals und ausgeleierte Pullover über den Sitzen hängen, kapieren wir schnell: Wir sind Theben. Wir sind diejenigen, die nach der letzten Schlacht von der Einwohnerschaft übrig geblieben sind.

Nicht übrig geblieben ist hingegen Polyneikes, der gegen die Stadt gezogen war, um sein Erbteil zurückzuerobern. Denn sein Bruder Eteokles hatte ihn vormals im Kampf um den Thron aus Theben vertrieben. Und obwohl die Brüder sich soeben gegenseitig tödlich verwundet haben, arbeitet sich Polyneikes – ein ansehnlicher junger Mann mit Soldatenmarke auf dem nackten Oberkörper – jetzt durch einen Klamottenberg noch einmal aus dem Hades empor, um sich anschließend in gebotenem romantischen Pathos durch die ersten Romanseiten aus Friedrich Hölderlins „Hyperion“ zu klagen. Denn mit selbigem hat der Regisseur Jan Bosse die antike „Antigone“-Tragödie angereichert.

Allzu weit kommt Polyneikes/Hyperion allerdings nicht, denn schon rückt der personifizierte Pragmatismus in Gestalt des neuen Staatschefs ein: Kreon, den Ronald Kukulies als Bundespolitiker mit Provinzaura gibt – Phänotyp Horst Seehofer –, tritt mit spitzen Schuhen über die Klamottenleichenberge hinweg ans Mikro und richtet eine Art Ruck-Rede an uns: Gegen Staatsfeinde, doziert er sinngemäß in der sperrigen Hölderlin’schen „Antigonae“-Übersetzung, werde er zu unserem Schutz hart durchgreifen, weshalb der Aggressor Polyneikes im Gegensatz zum Verteidiger Eteokles kein Begräbnis erhalte.

Bosse entschärft den gesamten politischen Zündstoff der Tragödie

Mit anderen Worten: Kreon formuliert ein nach seinem Demokratieverständnis unausweichliches Gesetz. Seine Schwiegertochter in spe, Polyneikes’ Schwester Antigone, wird dieses staatliche Verbot später unter Berufung auf das göttliche übertreten und ihren Bruder – trotz drohender Todesstrafe – beerdigen. Damit steht ein glasklarer, analytischer politischer Konflikt im Raum, den beispielsweise die israelische Autorin und Regisseurin Yael Ronen kürzlich in Dresden zwar plakativ, aber durchaus plausibel vor dem Hintergrund tagesaktueller Terrorabwehrdebatten zugespitzt hat.

Jan Bosse geht in „Antigonae/Hyperion“ den umgekehrten Weg: Statt das Politische zu fokussieren, psychologisiert er den Stoff und landet in der Banalität des Privaten. Man schätzt Bosse als intelligenten und sorgfältigen Klassiker-Exegeten, der die Stoffe so lange dreht, wendet und abklopft, bis er genau den Punkt gefunden zu haben glaubt, an dem eine heutige Zuschauerschaft andocken kann. Und da sich der Alltag des gemeinen Zeitgenossen mutmaßlich etwas banaler gestaltet als Goethes oder Kleists Gedankengut, kocht der typische Bosse-Abend die Ebenen immer etwas herunter. Bei „Hamlet“ oder „Endspiel“ hat diese Methode hervorragend funktioniert.

Jetzt, angesichts der schroffen Wucht der antiken Tragödie, versagt sie allerdings komplett. Man braucht nicht übermäßig viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass Seehofer und Sophokles gar nicht anders können, als haarscharf an der unfreiwilligen Komik entlangzuschrammen. Bosse entschärft den gesamten politischen Zündstoff der Tragödie, indem er dem Personal psychologische Motive wie aus dem Freud-Bilderbuch unterschiebt. Im Grunde verkommt sogar sein ambitioniertes Projekt, den (bei Sophokles gar nicht auftretenden) Polyneikes mit Hölderlins Hyperion zu identifizieren, zur bloßen moralischen Alibi-Lieferung für Antigone. Die hat da nämlich mit ihrem toten Bruder irgendwie so ein Inzest-Ding zu laufen, was man ihr alltagsplausibilitätstechnisch zwar nicht verübeln kann, was aber unter inszenatorischen Gesichtspunkten das Geschehen gigantisch verzwergt.

Die Schauspieler können den Tragödienton nicht bewältigen

Es ist nämlich so: Antigones designierter Gatte, der Kreon-Spross Haemon (Max Simonischek), scheint auf seinen Kriegsversehrten-Krücken auch mental ziemlich fertig zu haben. Ein traumatisierter, gelangweilter Langweiler. Da wirkt das heroische, staatsphilosophisch wasserdichte Leiden und Revoltieren des Polyneikes/Hyperion definitiv erotisierender. Die Inszenierung lässt auch keinen Zweifel daran, dass es weniger das brüderliche Gedankengut ist, das Anja Schneider als Antigone ein beseeltes Lächeln nach dem anderen übers Gesicht huschen lässt, als vielmehr die Sexiness des Angekränkelten. Antigone wird so – zumal durch die gelegentliche Überblendung mit Hyperions Diotima – zum harmonischen, mit sich selbst und der Natur ach so identischen, herzensreinen Gefühl. Die Frauencharakterisierung, die Bosse hier überraschenderweise unterläuft, grenzt schwer an gut gemeinte Diskriminierung. Dass Kreon seinerseits noch so ein leicht sabberndes Schwiegertochter-Schwiegervater-Ding zu laufen hat, macht die Tragödie dann noch einmal kleiner und das Bühnengeschehen umso peinigender. Der Biertischpolitiker lässt keine Gelegenheit aus, an der Blondine herumzufingern.

Bis auf Sebastian Rudolph als Polyneikes/Hyperion (in Ansätzen) können die Schauspieler den Tragödienton nicht bewältigen. Man hat ständig das Gefühl, man könnte sich auch in einem hübschen Gegenwartsstück befinden, wo die Heldin mitfühlend die Stirn in Falten legt, weil der Kumpel gerade ein bisschen Beziehungsstress mit seiner Freundin hat.

Wieder am 2. und 18. Januar 2009.

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