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Kultur: Tolles Toben

Es lebe die Freiheit: Herbert Fritsch entfesselt in Schwerin Goldonis „Diener zweier Herren“

Sie fliegen, stürzen, purzelbaumen, sie hechten an die Rampe, als wäre die Bühne ein Schwimmbad, die Bühnenbretter weiches Wasser. Die Schweriner Schauspieler fürchten sich vor nichts in der zweiten Herbert-Fritsch-Inszenierung am Mecklenburger Staatstheater. Sie schreien, kreischen, singen, rennen, nerven und begeistern. Herbert Fritsch, Jungregisseur mit weißem Haar, ist ein Entfesselungskünstler. Und Carlo Goldonis Commedia dell’arte die ideale Steilvorlage.

In Venedig. Ein schmachtendes Liebespaar, das nur zusammenkommt, weil der erste Bewerber der Braut fern in Turin erstochen wurde. Die forsche Schwester des Erstochenen, die verkleidet als eben dieser Bruder auftritt, um ihrem Geliebten von Turin nach Venedig zu folgen. Sie als er und ihr verzweifelter Geliebter teilen sich einen Diener, ohne es zu wissen, ohne voneinander zu wissen. Herren und Diener, Verwechslung, Vertauschung, Verkleidung, Geld und Liebe, das ganze Komödienarsenal. Der Diener dient zwei fremden Herren, die eigentlich Mann und Frau sind und zusammengehören. Und der Tod dient allein dem Leben. Als Schatten, als schwarze Scherenschnitte tauchen sie auf, die Schauspieler, hinter einem fabelhaften Farbstreifenspiel, einer bühnenfüllenden Projektion, dem einzigen Bühnenbildelement von Bühnenbildner Fritsch, Konzeptkunst à la Daniel Buren, ein Künstler, der sich nicht scheut, Schals für Hermès zu entwerfen.

Herbert Fritsch nimmt alles nur von allem und ist in seinem Element, seinem ureigenen. So ein Feuerwerk aus Artistik, Blödsinn, Toben und Tollerei hat das Theater noch nicht gesehen. Geht das denn? Darf man das denn? Ständig Kalauer machen wie „fruchtbar – furchtbar – Fruchtzwerg“ oder „ein Mann von Formaggio“, abgedroschene Zitate verwenden wie Trapattonis „habe fertig“? Herbert Fritsch macht es einfach und macht noch mehr. Indem die Bühne regelfreier Raum wird, alles erlaubt ist, was die Schauspieler können und was dem Regisseur einfällt, gewinnt das Theater etwas zurück, wovon es scheinbar sowieso zu viel hat: Freiheit. Wer die Regie-Anstrengungen zum Thema „Wir wissen, wir machen nur Theater“ satt hat, begebe sich zu Herbert Fritsch und lasse sich durchpusten, auslüften, lasse sich nerven und amüsieren „gesund und fritsch“. Er weiß, was er tut und wo. Er macht Theater, nicht obwohl, sondern weil es Theater ist. Theater pur.

Und die Schauspieler folgen ihm mit Todesverachtung. Jakob Kraze, der übergelenkige Amtsvorstand Von Wehrhahn aus dem Biberpelz ist der Diener zweier Herren und er legt noch einiges drauf an Slapstick und Blödelei. Das Schweriner Team fetzt über die Bühne, dass die Ohren sausen und die Augen übergehen. Die zahllosen Hechtsprünge über die Balustrade in die Balkons rechts und links der Bühne lassen den Atem stocken und sehen nicht nur gefährlich aus.

Pianist John A. Carlson, mit po-langem Echthaar, wird von zwei Bühnenarbeitern auf die Bühne getragen. Kein Regie-Einfall. Er hat sich bei einem dieser Hechtsprünge kurz vor der Premiere das Bein gebrochen. Mittanzen kann er nicht mehr, doch seine Musik tanzt und beflügelt, rhythmisiert und befeuert. Ja, sie singen auch, von Amore, von Parole, singen wie Dean Martin, der in Hollywood auf Italienisch machte. Singen mit Inbrunst und Schmalz, wie Kleinspießer-Deutschland sich Italien vorstellte, machen immer noch eine Drehung mehr, über die Persiflage hinaus in hemmungslose Albernheit und hinein in den Irrwitz. Wie die fabelhafte Sonja Isemer als falscher Bruder: sie hat den Michael-Jackson-Griff in die männliche Mitte perfekt drauf, und ihre rüde Übertreibung einer zum Show-Element verkommenen Obszönität stößt einige Gedanken an.

Was braucht das Theater? Querdenker. Purzelbaumdenker. Spinner, Extremisten, Berserker. Einar Schleef. Christoph Schlingensief. Christoph Marthaler.

Herbert Fritsch, je nach Betrachtung leichtgewichtiger, vergnüglicher, verrückter, der Nachwuchs-Regisseur des Jahres, der Aufreger beim Theatertreffen, ist demnächst wieder in Berlin, an seiner alten Wirkungsstätte, bei Frank Castorf am Volkstheater. So ein Energiestoß kann dort nicht schaden.

Ulrike Kahle-Steinweh

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