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Kultur: Totenfest für Prinzessinnen

Mut zur Gegenwart: Vorschau auf die Ur- und Erstaufführungen der deutschen Theatersaison

Von Günther Grack

„In welcher Zukunft leben wir?“ Frank Baumbauer, Intendant der Münchner Kammerspiele, will dieser Frage in der Spielzeit 2002/2003 nicht nur mit einigen alten und vielen neuen Stücken nachgehen. Er hat auch seine Autoren um Antwort gebeten. Der Text, den Elfriede Jelinek für das Programmbuch beigetragen hat , überschrieben mit „Das Un-Heimliche“, sieht eine Übermacht der virtuellen Realität voraus, doppelt und dreifach potenziert: „Das Gespenstische wird siegen, die Abbilder von Abbildern von Abbildern.“ Eine Voraussage, die umso pessimistischer erscheint, als sie von jemandem gemacht wird, der mit seinem realen Bühnenwerk derzeit so präsent ist wie niemand sonst. Mit vier Uraufführungen, in München, Wien, Hamburg und Berlin, ist die 55-jährige Österreicherin die Nummer Eins auf der Liste der deutschsprachigen Autoren, die in der kommenden Saison Neues zu bieten haben.

Mein Thron gehört ihr

Die Münchner Kammerspiele starten mit „In den Alpen“, als Koproduktion mit dem Zürcher Schauspielhaus, inszeniert von Christoph Marthaler: Jelinek begreift darin das Bergbahnunglück von Kaprun, bei dem im November 2000 über 150 Menschen den Tod fanden, als „Kulminationspunkt unseres zentralen zivilisatorischen Antagonismus von Natur und Kultur“. Die Wiener Burg setzt im Akademietheater, unter Nicolas Stemanns Regie, die Alpen-Serie fort mit „Das Werk“; es handelt sich um das Kraftwerk von Kaprun, dessen Bau, einschließlich dreier Stauseen, in jahrzehntelanger Anstrengung über den Zweiten Weltkrieg hinweg den elenden Tod zahlloser Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener forderte, während sich Techniker und Ingenieure in „prometheische Vermessenheit“ steigerten.

Auch Jelineks „Prinzessinnendramen“, kurze Stücke vom Drama der begabten Frau, verteilen sich über zwei Bühnen. Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg geht im Malersaal mit „Der Tod und das Mädchen I-III“ voran, das Deutsche Theater Berlin lässt „Jackie – und andere Prinzessinnendramen“ folgen. „Jackie“, das ist Jacqueline Kennedy-Onassis. Wie das Theater zu dieser Inszenierung von Hans Neuenfels mitteilt, hat die Autorin „den modernen Prototyp der Präsidentengattin der Schauspielerin Elisabeth Trissenaar auf den Leib geschrieben und in Chanel eingekleidet“.

Mit zwei Uraufführungen kehrt der am 21. Juli 2001 an Herzversagen verstorbene Regisseur und Dramatiker Einar Schleef, Elfriede Jelinek durch gemeinsame künstlerische Arbeit verbunden, posthum auf die Bühne zurück. Zwei Werke von eigentlich erzählendem Charakter. Die Hommage auf seine Mutter kommt im Berliner Ensemble heraus: „Gertrud. Ein Totenfest“, bearbeitet von Dieter Sturm und Edith Clever, die das Monodrama zugleich inszeniert und spielt. Gleichfalls ein Einpersonenstück ist „Zigaretten“, ein szenischer Psychotrip in die Gedankenwelt eines verstörten Menschen, den der Regisseur Armin Petras im Studio des Mannheimer Nationaltheaters unternimmt – ein Mann mittleren Alters, von Frau und Tochter in seinem Haus verlassen, wird von Erinnerungen und Empfindungen heimgesucht.

„Und schon wieder ihr. Und schon wieder muss ich mit euch zusammen sein. Halleluja. Miserere... Kaum aus der Gartentür getreten, bin ich gezwungen, mich in eurer Gesellschaft zu bewegen. In eurer Gesellschaft? In eurer Unnatur.“ Was sich wie die Suada eines Menschenfeindes liest, ist ein Ausschnitt aus Peter Handkes neuem Stück „Untertagblues. Ein Stationendrama“. Ohne jedes nähere Wort der Information wird es vom Burgtheater für die Wiener Festwochen im Juni 2003 angekündigt. Nur Regisseur und Bühnenbildner sind schon bekannt: Luc Bondy und Richard Peduzzi.

Autoren der jüngeren Generation, haben sie sich erst einmal einen n gemacht, dürfen darauf vertrauen, dass sie fast blindlings gebucht werden. „Ein neues Stück“ verspricht sich und seinem Publikum das Staatstheater Stuttgart von Theresia Walser. „Ein neues Stück“ verheißt auch das Schauspielhaus Zürich von René Pollesch, der erstmals sein Werk nicht selbst inszenieren wird (wie diverse Male an der Berliner Volksbühne geschehen), sondern es Stefan Pucher anvertraut, mit dem er es im Dialog zu schreiben gedenkt. Die Volksbühne selbst räumt ihren Prater zunächst für Tim Staffel frei: Staffel, Autor des Romans „Terrordrom“, bringt dort „Hausarrest“ auf die von Bert Neumann gestaltete Bühne.

Übrigens gehen in begrüßenswerter Weise alle Berliner Theater das Risiko ein, sich in der neuen Saison an neuen Sachen zu versuchen. Das Maxim-Gorki-Theater zeigt „Das Karussell“ von Klaus Chatten, nächtliche Szenen „über schwule Liebe und Sehnsucht“ aus dem Berlin der Gegenwart. Die Schaubühne hat Regisseur Luk Perceval für „Das kalte Kind“ gewonnen: Das neue Opus ihres Hausautors Marius von Mayenburg ist ein kohlrabenschwarzhumoriges Familienstück. Das Berliner Ensemble setzt auf den alten Fuchs und Taubenvergifter Georg Kreisler und auf das junge Chansontalent Tim Fischer: Werner Schroeter, changierend zwischen Film und Oper, wird den musikalischen Abend unter dem Titel „Adam Schaf hat Angst“, in Szene setzen.

Und das Deutsche Theater hat, speziell für sein Frauenensemble, bei Jenny Erpenbeck ein Stück mit dem Arbeitstitel „Walpurgisnacht“ bestellt, jene Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, die nach altem Volksglauben von gespenstischen Umtrieben erfüllt ist. Ein unheimlicher Zufall will es, dass auch Tim Staffels „Hausarrest“ in eben dieser Nacht spielt, hier einer Nacht der politischen Demonstrationen, zwischen deren Fronten sechs einander fremde Menschen von den Ordnungskräften zu einer Zwangsgemeinschaft weggesperrt werden.

Auffällig eine weitere thematische Koinzidenz: Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ theatralisch umzusetzen, wetteifern zwei Bühnen miteinander – Berlins Deutsches Theater hält sich an den originalen Romantext, das Schauspiel Hannover stützt sich dagegen auf die von Nabokov selbst erarbeitete Drehbuchfassung.

Während das Theater Bonn auf seinen drei Spielstätten diesmal keine einzige Novität zu bieten hat, zeigt sich das Theater Freiburg unter seiner neuen Intendantin, der Regisseurin Amelie Niermeyer, dem Gegenwartstheater besonders aufgeschlossen. Moritz Rinkes „Nibelungen“, eben erst auf dem Wormser Domplatz uraufgeführt, kommen hier erstmals unter Dach und Fach, betreut von dem jungen Regisseur Sebastian Baumgarten (der an der Deutschen Oper Berlin demnächst Massenets „Werther“ herausbringen wird). Tom Peuckert, ebenfalls Berliner Autor (und Tagesspiegel-Mitarbeiter), eröffnet eine Monologreihe, betitelt EGOisten, mit „Kaspar Hauser Bombe“. Das Wort hat hier ein Komiker, dem es jedoch sehr ernst ist mit seinem Anliegen. Er möchte ein reiner Tor werden wie Kaspar Hauser und einem Minister in einem öffentlichen Streitgespräch die ganze Wahrheit über die schlechte Welt sagen, um sich am Ende mit ihm zusammen in die Luft zu sprengen. Der Moralist – ein Terrorist.

Wenn das Theater der Gesellschaft den Spiegel vorhält, dann womöglich den Zerrspiegel der grotesken Farce: Kai Hensels „Weg in den Dschungel“ (Staatsschauspiel Dresden), macht mit seinen Abenteuerurlaubern einen Horrortrip ans Ende der Welt. Peter Stamms „Après Soleil“ (Schauspielhaus Zürich) genügt ein mit allen Bequemlichkeiten ausgestatteter Ferienclub, um die Zivilisation abzustreifen und die Gäste, von soviel Freizeit frustriert, wie wilde Tiere aneinander geraten zu lassen. Albert Ostermaiers „Katakomben“ (Schauspiel Frankfurt) bezeichnen den Untergrund einer Metropole, wo die Ärmsten der Armen es mit den Reichen und Schönen zu tun bekommen, die hier eine Party etwas abseits des Üblichen feiern. Nicht ganz so viel Düsternis wird man von Roland Schimmelpfennig erwarten dürfen: „Vorher/Nachher“, ein Stück voll komödiantisch-akrobatischem Surrealismus, wird nach der Uraufführung in Hamburgs Deutschem Schauspielhaus alsbald in Düsseldorf, Karlsruhe und München nachgespielt.

Mein Klon gehört mir

An deutschsprachigen Erstaufführungen dagegen wird in dieser Saison wenig geboten. An der Spitze firmiert hier der schwedische Kriminalschriftsteller Henning Mankell, der in seiner Wahlheimat Mozambique ein Doppelleben als Theaterleiter führt. Mit zwei Stücken ist er in den Spielplänen: „Antilopen“ (Wiesbaden) spiegelt die Afrika-Erfahrung des Autors am Beispiel zweier Landsleute wider, Entwicklungshelfern, die den Dschungel als überwältigende Fremde erleben. „Zeit im Dunkel“ (Frankfurt am Main) verschlägt umgekehrt zwei Afrikaner als illegale Flüchtlinge in den Hohen Norden Skandinaviens. Der Amerikaner Tony Kushner konfrontiert in „Homebody/Kabul“ (Basel) die erotische Faszination, die eine Europäerin traumhaft für Afghanistan empfindet, mit der alptraumhaft blutigen Härte der Realität.

Zwei Novitäten namhafter britischer Autoren: Das Staatstheater Cottbus zeigt „Die Kinder“ von Edward Bond, eine Vision von Gewalt, Tod und Vergebung, und damit erstmals ein Stück dieses Autors überhaupt. Die Berliner Schaubühne indes widmet sich Caryl Churchill in dieser Saison zum dritten Mal. Nach „Das ist ein Stuhl“ und „In weiter Ferne“ gibt es nun „A Number“, die Utopie einer so perfektionierten wie pervertierten Gentechnik, veranschaulicht an einem Mann, der sich unversehens Doppel-, Dreifach-, Vierfachgängern gegenüber sieht, lauter Klonen seiner selbst. Schöne neue Welt, ganz schön schlimm.

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