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Kultur: Trauer muss Gelsenkirchen tragen

Diderot beobachtete gerne ganz junge Frauen im Museum. Als er einmal mit einer Ausstellungsbesucherin vor JeanBaptiste Greuzes Bild „Der sterbende Greis“ stand, rief sie: „Ach Gott, wie er mich ergreift!

Diderot beobachtete gerne ganz junge Frauen im Museum. Als er einmal mit einer Ausstellungsbesucherin vor JeanBaptiste Greuzes Bild „Der sterbende Greis“ stand, rief sie: „Ach Gott, wie er mich ergreift! Wenn ich ihn noch länger ansehe, werde ich wohl weinen.“ Sie weinte dann auch, Diderot weinte ebenso, aus lauter Rührung, dass die Kunst ergreifend ist, als Künstler will man so etwas wissen.

Auf dem Theatertreffen habe ich das jetzt auch gemacht, allerdings war das etwas schwieriger, denn im Theater gibt es keine ganz jungen Frauen. Die jüngste, die ich beobachtete, war ungefähr 35. Es war in der „Orestie“, vier Reihen hinter mir: Klytaimnestra tötet Agamemnon, keine Regung. Orestes tötet Klytaimnestra, auch nichts. Kassandra tot, sie schaut nach im Programmheft. Nun Aigisthos tot, gar nicht mitgekriegt. Vielleicht wurde auch einfach zu schnell gestorben, aber ich bin auch nicht sicher, ob sie bei Peter Stein geweint hätte, wo ja immer langsamer gestorben wird.

Die Jüngste in „Drei Schwestern“ , die ich sehen konnte, war genau hinter mir, ungefähr 40, eigentlich so ein Olga-Typ. Einmal, als Irina weinte, putzte sie sich die Nase. Ich drehte mich begeistert um, doch sie sagte „Is was? Scheiß Heuschnupfen!“. In „Tartuffe“ waren fast alle über 50, Erfahrungen wie Diderot konnte ich auch hier nicht machen. Im „Gott des Gemetzels“ wurde nur gelacht. Zum „Werther“ konnte ich leider nicht, danach hat man sich ja früher sogar umgebracht (Werther-Effekt).

Samstagabend, „Sportschau“. Man fasst es nicht. Nicht Orestes, nicht Agamemnon, nein, Mehmet Scholl! Scholl tritt ab für immer: weinende Bayern, Uli Hoeneß mit Taschentuch, Rummenigge auch. Und dann, „Sportstudio“: Meisterempfang, 250 000 frenetische Schwaben mitten in der Nacht, weinende Schwaben, Ekstase und Weinen! Oettinger gerührt, ich denk noch, lieber Gott, lass Oettinger jetzt nicht auch noch weinen (Filbinger!), die „Orestie“ trocken verpufft, aber ausgerechnet Oettinger weinend, da hätte selbst Diderot den Geist aufgegeben.

Auf Schalke sogar Suizid-Gefährdete im Gelsenkirchener Nahverkehr mit Kuranyi-Trikot. Junge Gelsenkirchenerinnen, die nicht mehr leben wollen! Was für Effekte!

Günther Rühle („Theater in Deutschland“) hat immer gesagt: Wo ist der Mensch? Wo sehe ich Tiefe? Das Theater kommt nicht mehr an die Menschen ran. Wenn man nicht an den Menschen rüttelt und sie aus ihrer Gegenwart holt, ist es sinnlos. So ungefähr hat Rühle das gesagt.

Im Morgengrauen im „Heute Journal“ wieder junge Gelsenkirchenerinnen. Schlimm. Lächerlich? Nein! Wenn sich einer umbringt, der „Werther“ gelesen hat, gehört es zur Kulturgeschichte des Abendlandes, wenn aber Schalke es wieder nicht wird, soll die Verzweiflung nicht ergreifend sein? Das Theater verpackt die Menschen, man sieht nichts mehr von ihnen. Anmaßend zu glauben, nur Klytaimnestra würde an unserer Seele rütteln, an mir zum Beispiel rüttelte seit Wochen Klose von Werder! Trifft sich heimlich mit den Bayern! Und dann Klose am Samstag auf der Ersatzbank in Wolfsburg, bleich wie Orgon, weil er sich mit Tartuffe (Hoeneß) eingelassen hatte. Klose, das ist ein Mensch, habe ich Rühle gesagt, und der wird es Peter Stein sagen.

Nun ist das Theatertreffen zu Ende, und kein Mädchen hat geweint.

„Ich bin weg. Ich gehe kegeln“, hat Mehmet Scholl zum Abschied gesagt, der einstige Teeniestar. Wenn ich Jean-Baptiste Greuze wäre, ich würde ihn malen, Scholl malen, „Der kegelnde Greis“.

Und dann selber weinen. Endlich.

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