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Berliner Lebensadern: Brunnenstraße: Ost und West mit vertauschten Rollen

In unserer Serie "Berliner Lebensadern" erkundet der Schriftsteller Moritz Rinke mit seiner Romanfigur Paul die immer noch geteilte Brunnenstraße in Wedding und Mitte.

Ob in Kassel, Hamburg, Köln, München, Schwerin, Worms, Bremen, Gießen, Hannover oder Fürth – überall kennen die Büchermenschen die Brunnenstraße in Berlin. Bei jeder Lesung in Deutschland fange ich an, von der Brunnenstraße zu erzählen, die Brunnenstraße ist mein dramaturgischer Einstieg. Ich sage immer: Es gibt keine verrücktere Straße in der Hauptstadt! Und dann gehe ich vor jeder Lesung innerlich die Straße hoch, vom Rosenthaler Platz – da, wo auch meine Romanfigur Paul immer sitzt in seinem „Weltverlorenheitscafé“ – nordnordwestlich bis ins Brunnenviertel.

Am Anfang überall Kebab, da sieht es aus wie Kreuzberg, orientalische Tücher liegen aus, Gemüse, und die Prenzelberger laufen vom Weinbergspark herüber und sitzen beim neuen Bio-Burger. Hier ist die Brunnenstraße zwar unsaniert, sieht aber bunt aus, sehr lebendig, meist ist sie mit Autos verstopft und mit Polizisten, die vor ihrer Abschnittsstation Autos abschleppen lassen oder wahnsinnige Akademiker auf dem Fahrrad stoppen, die wie die Irren (oder bekifft) vom Weinberg in die Brunnenstraße biegen, so als gebe es nur sie auf der Welt.

So wirklich interessant wird es jedoch erst jenseits des Weinbergs, denn da wird die Brunnenstraße durch den ehemaligen Mauerverlauf der Bernauer Straße immer noch (oder schon wieder) in zwei verschiedene Welten geteilt: in den besseren Osten und in den schlechteren Westen. Im Prinzip vertauscht hier die Welt, wie sie einmal war, komplett die Rollen. In der unteren, der „östlichen“ Brunnenstraße der Rosenthaler Vorstadt, ist alles mehr oder weniger saniert, es gibt hippe Galerien, Anwälte, Architekten, Cafés – und kaum überquert man die Bernauer, dann hat man das Gefühl, man stehe in Bitterfeld, Bautzen oder Nordkorea.

Schon der Übergang von Hausnummer 138 zu 139, von der beige-gelb-ocker-farbenen und herrlich gekalkten, irgendwie italienisch anmutenden Fassade des „neuen Westens“ zum ersten Bitterfelder Nordkorea-Gebäude des „neuen Ostens“: ein grauschwarzes Klinkerhaus mit verwahrlosten Balkonen und hässlichen Satellitenschüsseln; unten ein Tintengeschäft sowie ein Laden mit Bastelmaterial, gegenüber ein geschmackloser Blumenladen mit einer traurigen Floristin. Man kann sich kaum noch vorstellen, dass hier ab dem 13. August 1961 die Fluchtversuche genau in diese Richtung zielten, in den Westen. Was muss hier unterhalb der Straße, im lehmigen Grund der Bernauer, für eine Energie von Sehnsüchten, von Überlebenskampf und Todesängsten konserviert sein! Durch Abwasserkanäle oder selbst gegrabene Fluchttunnel (verfilmt!) versuchte man der DDR zu entkommen; viele sprangen aus den Fenstern der Bernauer Straße in den Westen und starben, so zum Beispiel Ida Siekmann, die aus dem dritten Stock des Hauses der Bernauerstraße 48 das Sprungtuch verfehlte.

Heute erinnert an die historische Mauer noch an eine doppelte Pflasterreihe, allerdings existiert wirklich eine neue, eine imaginäre Mauer. Man kann nämlich beobachten, dass die Menschen von der einen Seite niemals auf die andere Seite laufen, sie gehen höchstens in die U-Bahn oder zur Straßenbahn, aber keiner dringt in die jeweils gegenüberliegende Region der Rosenthaler Vorstadt oder des Brunnenviertels tiefer ein. Auf der Brunnenstraße leben eher zwei unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, nur durch eine zehn Meter breite, geschichtsträchtige Straße getrennt, die immer noch wie ein Geist ihre Bestimmung ins Werk setzt.

Mein Roman beginnt auch auf der Brunnenstraße. Paul hat eine kleine Galerie, allerdings auf der falschen Seite der Brunnenstraße, im Wedding, im neuen Osten, zwischen „Ginas Salon“, einem Föhnsalon für Hunde, und einem Brillengeschäft mit Brillengestellen, von denen man wahrscheinlich kein einziges auf der anderen Seite der Brunnenstraße verkaufen könnte. Meistens laufen die Kunden vom „Brillen- Meyer“ zu Paul in die Galerie, um vor den ausgestellten Bildern der Galerie die Sehstärke der Gläser zu testen, für die Kunst interessieren sie sich nicht. Auch nicht die hysterischen Hunde vom Föhnsalon, die zu Paul in die Galerie flüchten, weil sie nicht von Gina geföhnt werden wollen.

Paul hatte sich dennoch für eine Galerie an dieser Stelle auf der Brunnenstraße entschieden (man vergleiche mal die Mieten!), weil er hoffte, irgendwann würde auch der Weddinger Teil der Brunnenstraße kommen und im Trend liegen, schließlich seien ja Neukölln und Pankow auch gekommen, und schließlich sei Mitte ja auch nur eine Minute entfernt. An so eine Straße müsse man sich also nur dranhängen, der Rest komme dann von alleine.

Sich dranhängen zum Beispiel an „Tarantinos Bar“ auf der anderen, der schönen Seite der Brunnenstraße, eine kleine Bar, die auch schon Tarantino selbst besucht haben soll und in der Original-Kill-Bill-Schwerter hängen! Womöglich hat hier auch schon John Travolta etwas getrunken, und wenn John Travolta eine Minute entfernt etwas trinkt, dann muss doch irgendwann auch mal die andere Seite der Brunnenstraße davon profitieren.

Neben „Tarantinos Bar“ ist ein Versicherungskontor, was absolut bezeichnend ist für die verrückte Brunnenstraße: Versicherungen und Tarantino! Gleich daneben ist ein Nepal-Restaurant, dann folgt ein Studio für Nähkurse, eine Galerie für Architektenmöbel, besetzte Hausprojekte, ein Geschäft für Bilderrahmen und jede Menge Galerien.

Hier gibt es auch das kleine „Raja Jooseppi“-Café mit der lautesten Falltür von Berlin, im „Raja Jooseppi“ kann man übernachten, Fahrräder leihen oder abends Cocktails trinken. Etwas weiter unten dann das Jivamukti-Yoga-Loft, eines der offenbar besten Yoga-Studios der Stadt, wo der Bruder von Uma Thurmann („Kill Bill“!) Kurse gibt und die schönsten Schauspielerinnen Berlins in den Schulterstand gehen. Daneben ist der Spielverein Mitte e. V., eine richtige Skat- und Mau-Mau-Bude. Weiter unten findet man das „Outsider“, den „Ausstellungsraum für Knastkunst und Kiezkunst“ sowie die Synagoge „Beth Zion“, eine der vielleicht unbekanntesten Synagogen überhaupt, sogar seit 2007 mit einer Talmud-Thora-Schule.

Viele fragen sich, warum Tag und Nacht ein Polizist auf der Brunnenstraße 33 steht, denn die Synagoge ist von außen nicht zu erkennen, sie steht im Hinterhof. Um 1900 wurde sie begründet, damals gab es über 100.000 Juden in Berlin und die Synagogen reichten nicht mehr, außerdem war es den Juden am Schabbat verboten, Technik zu benutzen, und die älteren Juden aus der Rosenthaler Vorstadt schafften es auch nicht mehr zu Fuß zu den großen Gemeindesynagogen.

Vor der Zerstörung der Synagoge in der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 war der Anteil der jüdischen Bevölkerung in der Rosenthaler Vorstadt der höchste in Berlin, was mit der Bedeutung des früheren Rosenthaler Tores zu tun hatte. Vor diesem Tor, dem einzigen Berliner Stadttor, durch welches Juden nach Berlin gelassen wurden, stand 1743 Moses Mendelssohn. Und so findet man noch heute auf der Gedenktafel am Vorderhaus der Synagoge den hebräischen Schriftzug: „Dies ist das Tor, durch das die Gerechten eintreten.“

Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie das Leben einmal auf der von Friedrich II. 1752 gebauten Brunnenstraße war: all die jüdischen Schneider und Konfektionsbetriebe, dazwischen die Kommunisten, die vorwiegend in der Umgebung der nördlichen Brunnenstraße Versammlungen abhielten – und die SA-Stürme, deren berüchtigte „Standarte Zackig“ die Brunnenstraße zum Schlachtfeld gegen die Kommunisten machte.

Neben der Privatsynagoge „Beth Zion“ steht heute ganz friedlich ein Puppentheater. Man spielt vom „Rumpelstielzchen“ bis zum „Fliegenden Zaubertopf“ alles – und die zum Gebet eilenden Orthodoxen und die Kinder mit vorfreudigen Augen vor dem Puppentheater sind eine der schönsten Mischungen auf der Brunnenstraße. Überhaupt diese heutigen Mischungen, dieser „Zaubertopf der Brunnenstraße“: die schönen, fliegenden Jivamukti-Frauen; die Skatbrüder; die Knastbrüder; die Orthodoxen; die Tarantino-Trinker; die Versicherungskontoristen und hippen Galeristen. Wo gibt es denn einen lebendigeren, gemischteren Straßenteil in Berlin?

Nur meinem Paul im Roman hilft das nicht wirklich weiter. Er sitzt ja im Nordkorea-Teil der Brunnenstraße und da ist eben alles gleich triste und einheitlich grau. Früher war hier noch der Fußballverein Hertha BSC Berlin beheimatet, an der sogenannten „Plumpe“ spielte man von 1902 bis Anfang der siebziger Jahre und errang die größten Erfolge der Vereinsgeschichte. Hertha triumphierte historisch an der „Plumpe“ am Gesundbrunnen, nicht im Olympiastadion.

Einmal, zum Erscheinen des Romans, habe ich dort mit dem Autor Norbert Kron und einem Filmteam des RBB gedreht, wir sind also die „Zaubertopf“-Seite der Brunnenstraße abgelaufen, dann haben wir die Bernauer Straße passiert und auf Pauls Nordkorea-Seite weiter gedreht. Und der RBB hatte tatsächlich einen Galeristen ausfindig gemacht, den hatte ich bei meiner Brunnenstraßen-Recherche völlig übersehen. In einem architektonischen Horrorgebäude, zwischen Obi und einem Riesencasino namens „Der Spaß hört nie auf“ sowie einer Fahrschule, Textilreinigung und der traurigen Floristin, gibt es die Galerie Oqbo, den „Raum für Bild, Wort und Ton“. Ambitioniert, aber besucherlos und wie abgehängt von den Galerien der anderen Seite. Aber immer noch hoffend, dass die schöne bunte Karawane von drüben auch diesen Teil der Brunnenstraße irgendwann erreicht. Es war plötzlich alles wie bei Paul.

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