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Kultur: Tropacabana

Rio vor der WM: Kampf um die Slums

Als vor einem Jahr der Krieg in Rio de Janeiro wieder einmal aus den Slums in den Rest der Stadt schwappte und Drogengangs Verkehrsbusse auf offener Straße anzündeten, war das keine Demonstration der Stärke, sondern ein Akt der Verzweiflung. Denn die Regierung des Bundesstaats hatte einen dramatischen Strategiewechsel vollzogen: Sie stationierte die neuen Friedenseinheiten der Polizei in den Favelas, aus denen die Drogengangs zuvor militärisch vertrieben worden waren. Die Unidades da Policía Pacificadora (UPP) sollten deeskalierend auftreten und den Staat dauerhaft repräsentieren.

Dessen Abwesenheit war und ist das charakteristische Merkmal jeder Favela. Nichts von alledem, was wir als selbstverständlich ansehen, existiert dort: öffentliche Müllentsorgung, Kindergärten, Schulen, Gesundheitsdienste, Polizei. In das Sicherheitsvakuum stießen vor rund drei Jahrzehnten die Drogengangs, von denen drei große Fraktionen übrig geblieben sind. Von den Favelas aus belieferten sie die Mittel- und Oberschicht der Stadt mit Drogen. Die Polizei drang nur dann, wenn es opportun erschien, mit hochgerüsteten Spezialeinheiten in die Armenviertel ein und zeigte anschließend die Leichen Halbwüchsiger. Unter dieser Situation litten die ein bis zwei Millionen Bewohner der über die ganze Stadt verteilten Favelas. Sie mochten die Drogengangs nicht, aber sie hassten die Polizei, die in ihre Viertel kam und losballerte – wie es der Berlinale-Gewinner 2008 „Tropa de Elite“ realistisch zeigt.

Nun wird in anderthalb Jahren in Brasilien die Fußballweltmeisterschaft angepfiffen, 2016 finden die Olympischen Spiele in Rio statt. Es herrscht Handlungsdruck, um die katastrophale Sicherheitslage zu verbessern. Und anders als in Südafrika oder Peking lautet das Rezept nicht nur Repression, sondern auch: UPP, Friedenspolizei. In 18 der bis zu 1000 Favelas ist diese zurückhaltend auftretende Einheit bereits präsent. Diese liegen nicht zufällig in der für die WM und den Tourismus wichtigen Zona Sul.

Es ist ein ziemlich einmaliger Vorgang in einem demokratischen Land. Da versucht sich ein Staat Dutzende Wohnviertel inmitten seiner zweitgrößten Stadt zurückzuholen – erst vor wenigen Tagen wurde Rocinha, die berühmteste Favela Rios, von der Polizei besetzt. Aber was bewirken die Friedenseinheiten wirklich? Sind sie am Ende nur ein Werbegag?

Vier junge brasilianische Filmemacher, die selbst in Favelas leben, haben darüber einen ausführlichen Dokumentarfilm gedreht. „5 x UPP“ läuft derzeit im Berliner Haus der Kulturen der Welt im Rahmen des Première Brasil-Festivals, das die besten Filme von Rios Filmfestspielen versammelt. In schneller Abfolge werden Favela-Bewohner, Polizisten, Passanten oder Sozialarbeiter befragt, beeindruckende Gegenbilder von Rio gezeigt – und ganz nebenbei die Geschichte eines Riesenlandes im Aufbruch erzählt, das versucht, mit seinen enormen Spannungen fertig zu werden. Die Regisseure treffen auch den Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro, was damit zu tun hat, dass dieser den Film finanziert hat – ohne allerdings in irgendeiner Weise Einfluss zu nehmen, wie die vier Filmemacher im Gespräch versichern.

Klar ist am Ende: Das Experiment scheint zwar zu klappen, Favela-Bewohner und die Friedenspolizisten nähern sich langsam an. Es wird aber scheitern, wenn nicht schleunigst eine soziale Infrastruktur entsteht und Alternativen zur Drogenkarriere geboten werden. Die UPP wiederum hat ein Rekrutierungsproblem, weil ihre Beamten unter den anderen Polizeieinheiten als „Schwuchteln“ gelten. Auch deshalb spielen Frauen in der UPP eine überproportionale und erfolgreiche Rolle. Was ist die Hauptaufgabe der UPP? „Die Favela vor den anderen Polizeieinheiten schützen“, meint ein Favela-Bewohner sehr treffend. Philipp Lichterbeck

„5x UPP“ wieder am Do, 24.11. 21 Uhr. Das Festival „Première Brasil“ läuft bis 27.11., Infos unter: www.hkw.de

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