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Für Ruprecht Polenz (CDU) stellen die ungelösten Probleme der Türkei wie das Militär, der Nationalismus und der Kurdenkonflikt kein Ausschlussgrund dar.

© dpa

Türkei-Beitritt: Europa endet nicht am Bosporus

Ein CDU-Politiker wagt den Tabubruch: Ruprecht Polenz will die Türkei endlich in der EU sehen.

Am 9. Juni war es, gegen Abend, als sich am Pariser Platz etwa 200 an Außenpolitik besonders interessierte Bürger versammelt hatten. Eine Diskussion über das Verhältnis zwischen der Türkei und Europa hatte sie zusammen geführt. Langzeitaußenminister Hans-Dietrich Genscher, Ex-Botschafter Wolfgang Ischinger und Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, sprachen über ein Buch, das Polenz kurz zuvor präsentiert hatte. Sein Titel: „Besser für beide – die Türkei gehört zu Europa“. Das klingt nicht nur nach Bekenntnis. Es ist mehr, es ist eine Art von Plädoyer, mit dem Polenz in der Unionsfraktion ziemlich einsam dasteht. Eine Position, die in seiner Partei im Vorfeld der Nordrhein- Westfalen-Wahl als so brisant empfunden worden war, dass die Vorstellung des Buches bis nach dem Wahltag verschoben werden musste. Wolfgang Ischinger deutete das, halb ironisch, halb bitter, an, als er mit einem Blick Richtung Nordosten so begann: „Wir haben uns hier nicht gegen jemand zusammengerottet, liebes Bundeskanzleramt …“

Es kam nicht von ungefähr, dass bei der Buchvorstellung neben Ischinger noch zahlreiche weitere hochrangige Diplomaten anwesend waren. Strategisch, und das heißt nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich und weltpolitisch betrachtet, sind die Vorzüge einer EU-Mitgliedschaft der Türkei bestechend. Das Land gehört seit Jahrzehnten der Nato, dem Europarat und der OECD an, allesamt Organisationen, die sich auch als Wertegemeinschaften empfinden. Im Blick auf die erweiterte Region, also nicht nur auf den Nahen, sondern auch auf den Mittleren Osten, hat die Türkei eine Brückenfunktion Richtung Georgien, Armenien, Iran, Irak und Syrien. Wäre sie Mitglied der Europäischen Union, strahlte sie als Beweis für die Vereinbarkeit von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Islam vorbildhaft in eine Weltgegend im tiefen Umbruch aus – für Diplomaten, deren Geschäft es ist, Völker miteinander friedlich ins Gespräch zu bringen, eine faszinierende Option.

Auch die meisten heutigen Gegner eines EU-Beitritts der Türkei würden diese Vision wohl gerne teilen, aber aus ihrer Sicht mangelt es an fundamentalen Voraussetzungen dafür. Sie sehen die Türkei weder auf dem Weg zu einer Zivilgesellschaft noch als durchgehend demokratisiert an. Sie nehmen stattdessen massive Signale des politischen und religiösen Extremismus wahr, finden Beweise für das Terrorisieren von ethnischen Minderheiten und für das Leugnen von Verbrechen der Vergangenheit. Die alte Territorialfehde mit Griechenland und die neue Abwendung von Israel werden als zusätzliche Alarmsignale gesehen – dieses Land ist aus Sicht seiner Gegner nicht friedensfähig und damit auch nicht EU-tauglich.

Der nüchterne Jurist Ruprecht Polenz weicht in seinem knapp 100 Seiten starken Essay keinem einzigen dieser Konfliktpunkte aus, kommt aber fast durchgehend zu anderen Schlüssen. Er diagnostiziert eine Fülle von Fortschritten der Türkei auf fast allen Gebieten und verbindet nahezu jeden davon mit dem über Jahrzehnte in Handlungen umgesetzten Willen der Staatsführung, die Türkei Europa-fähig und Europa-tauglich zu machen. Aus seiner Sicht hat der unterschwellige (West)-europäische Wunsch, den Islam auf Distanz halten zu können, zu einer sich über Jahre hinziehenden Verschleppungstaktik geführt, die aus Sicht des Verfassers inzwischen gefährliche Konsequenzen hat. Lange galt, dass der EU-Prozess demokratische und rechtstaatliche Entwicklungen stabilisiert und Reformen vorantreibt. Die Transformationsprozesse in den ehemaligen Diktaturen Griechenland, Spanien und Portugal in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren überzeugende Belege dieser These. Die Analyse von Polenz kommt für die Türkei zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung dort inzwischen am Kippen sei – aus Enttäuschung über die Hinhaltetaktik der Europäer wendet sich das Land ab und sucht eine neue Orientierung Richtung Mittelost.

Diese Umorientierung könnte zwar durchaus auch begrüßenswerte regionale Überlegungen als Ursache haben – was etwa wäre gegen die türkische Absicht einzuwenden, mit allen Nachbarn in Frieden leben zu wollen? Ist es nicht gerade das, was die Europäer aus ihrer kriegerischen und selbst zerstörerischen Vergangenheit gelernt haben? Wäre die Annäherung an Syrien oder Iran Ergebnis eines rationalen Prozesses, müsste auch Europa sie begrüßen. Leider führt aber, muss man hier doch zu bedenken geben, in der türkischen Führung auch eine Mischung aus Minderwertigkeitskomplexen und überschießendem Selbstbewusstsein zu impulsiven, unberechenbaren und irrationalen Reaktionen, die bei einem EU-Mitglied Türkei für die gesamte Gemeinschaft ausgesprochen explosiv wären.

Neben der Nüchternheit der Argumentation ist ein weiterer Vorzug des Büchleins von Ruprecht Polenz, dass dem überheblichen Europäer, der die Fortschritte in der Türkei nicht erkennen mag, immer wieder ein Spiegel vorgehalten wird. Ein Beispiel von vielen: Die türkische Gesellschaft sei nicht emanzipiert, habe ein paternalistisches Menschenbild? Noch in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts durfte in der Bundesrepublik eine Frau ohne die Erlaubnis ihres Mannes keinen Beruf ergreifen. Das Prügeln von Kindern und Schülern durch Pfarrer und Lehrer war, wie wir gerade erfahren, noch vor 30 Jahren in diesem Land genauso gang und gäbe wie der vermeintlich fürsorgliche Missbrauch von Schutzbefohlenen. Zur Überheblichkeit besteht also kein Anlass.

Ruprecht Polenz: Besser für beide.

Die Türkei gehört in die EU.

Edition Körber-Stiftung,

Hamburg 2010.

110 Seiten, 10 Euro.

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