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Kultur: Türkei und Europa: Nur keine Mauer vor den Köpfen

Zwei Meldungen aus den jüngsten Tagen. In Reaktion auf die westliche Kritik an Menschenrechtsverletzungen in der Türkei möchte das türkische Parlament die Umstände des Todes eines Demonstranten beim G-8-Gipfel von Genua untersuchen.

Zwei Meldungen aus den jüngsten Tagen. In Reaktion auf die westliche Kritik an Menschenrechtsverletzungen in der Türkei möchte das türkische Parlament die Umstände des Todes eines Demonstranten beim G-8-Gipfel von Genua untersuchen. Tenor: Wir kümmern uns um Menschenrechtsverletzungen überall auf der Welt. Selbst türkische Zeitungen, die sonst in Fragen des internationalen Ansehens den nationalen Schulterschluss üben, fanden es erstaunlich, dass der Menschenrechtsausschuss nun das Ausland überprüft, wo er doch bis heute keinen Abschlussbericht über die Stürmung von 20 türkischen Hochsicherheitsgefängnissen vor einem guten halben Jahr mit mehreren Toten vorgelegt habe.

Die zweite Meldung: Der EU-Kandidat Türkei behindert die Europäische Union systematisch bei ihrem Versuch, eine militärische Eingreiftruppe aufzubauen. Als Nato-Mitglied verweigert Ankara die Zustimmung zu Absprachen, dass die EU dafür Ressourcen des Bündnisses nutzen dürfe, um kostspielige Doppelstrukturen zu vermeiden. Das Angebot einer weitgehenden Mitsprache bei EU-Einsätzen lehnte die türkische Generalität ab. Sie will volle Gleichberechtigung durchsetzen, obwohl ihr Land nicht EU-Mitglied ist.

Ein normales Verhalten für einen, der Mitglied im Club werden möchte? Es geht nicht um die beiden Einzelfälle - es geht um den Umgangsstil. Denn der hat Methode. Westliche Kritik an Demokratiedefiziten kontert die Türkei häufig mit Gegenanklagen. Die berechtigte Frage, inwieweit islamische Traditionen die Demokratisierung erschweren könnten, wird gerne in den Vorwurf umgemünzt, Westeuropa sei ein christlicher Club, der Andersgläubige ausschließe. Eigeninteressen verfolgt Ankara mit Erpressungsversuchen - etwa beim Zypernstreit. Es herrscht kein Klima der Kompromisssuche, wie innerhalb der EU üblich. Der Kandidat versucht die Spielregeln zu diktieren.

Katerstimmung in der EU

In den meisten der 15 EU-Staaten, so wird die Stimmung in Brüssel geschildert, halte man den historischen Beschluss vom Dezember 1999 inzwischen für einen Fehler: Beim EU-Gipfel in Helsinki wurde die Türkei zum Beitrittskandidaten aufgewertet - in der Hoffnung, dies werde Ankara zu mehr Entgegenkommen bewegen, werde Reformen und Demokratisierung unterstützen. Anderthalb Jahre danach herrscht Katerstimmung. In Brüssel fragen viele: Wenn die Türkei sich in der Partnerschaft auf Probe so verhält - wie wird das erst, wenn sie Vollmitglied ist und umfassende Vetorechte genießt? Wird Ankara die Union blockieren?

Da sind sie wieder, die Grundzweifel. Kann die Europäisierung der Türkei gelingen - und in welchem Zeitraum? Wie groß ist das Spannungsverhältnis zwischen der politischen Kultur westlicher Demokratien und der muslimischer Staaten - und wie lassen sich die Unterschiede überbrücken? Ist die Türkei willens und fähig, in absehbarer Zukunft die Hausordnung der Europäischen Union einzuhalten? Und wie könnte ein Modernisierungsprozess aussehen, der das Land in die Lage dazu versetzt? Die schwierigste, die sensibelste aller Fragen: Ist der Islam, sind seine Traditionen ein Hindernis auf diesem Weg?

Aus dem Koran lässt sich eine solche Behauptung nicht ableiten: dass die Religion des Propheten per se demokratiefeindlich sei. Aber es geht nicht um Religionstheorie, es geht um die real existierenden Staatsformen muslimischer Gesellschaften. Ein Blick rund um die Welt legt nahe, dass die Frage nicht einfach von der Hand zu weisen ist. Es gibt kein islamisches Land, das sich eine anerkannte Demokratie nennen dürfte. Die Türkei, das ist wahr, kommt diesem Ziel mit ihrem säkularen Modell noch am nächsten. Was aber ist die Ursache dieses Phänomens? Reiner Zufall? Oder gibt es eine Verbindung zwischen Religion und politischer Kultur?

Die Wahrnehmung, dass die Länder eines Religions- und Kulturraumes allesamt größere oder eben kleinere Schwierigkeiten mit gesellschaftlicher und staatlicher Transformation haben, beschränkt sich im Übrigen nicht auf den Vergleich zwischen Christentum und Islam. Unter den EU-Beitrittskandidaten haben die Länder, die durch das westliche Christentum geprägt sind, die geringsten Schwierigkeiten mit dem Übergang zu Demokratie, Rechtsstaat und freier Marktwirtschaft - vom Baltikum über Polen, Tschechien und Ungarn bis nach Slowenien. Dagegen tun sich die Länder am schwersten, die im orthodoxen Kulturraum liegen: Bulgarien und Rumänien. Auch das nur Zufall? Oder soll man diese Abstufung mit der wachsenden Entfernung zu den Modernisierungszentren der letzten Jahrzehnte erklären - die nun mal im Westen liegen?

Ein weiteres Indiz für den Einfluss religiöser Traditionen ist jedoch die Wahrnehmung in den muslimischen Gesellschaften selbst. Das westliche Modell übt wegen seines ökonomischen und politischen Erfolgs hohe Anziehungskraft aus. Gleichzeitig werden viele Lebensformen des Alltags als unvereinbar mit den islamischen Traditionen empfunden. Vertreter des politischen Islam stellen sie sogar als feindlich hin. Es mag sein, dass Islamgelehrte leicht nachweisen könnten, dass ein "richtig verstandener" Islam nicht im Gegensatz zur Demokratie steht - entscheidend jedoch für das politische Verhalten von Regierungen und von Gesellschaften ist deren Selbstwahrnehmung. Es dominiert die Auffassung, islamische Tradition und westliche Lebensform stünden in einem Spannungsverhältnis.

Die Entscheidung der EU in Helsinki zielte auch auf dieses Gefühl. Man wollte die Psychologie der gegenseitigen Wahrnehmung verändern. Lange genug habe man eine skeptische, hinhaltende Politik verfolgt. Das Ergebnis seien gegenseitige Enttäuschungen gewesen, Verhärtungen im Umgang, ein Zurückweisungsschock, wachsende Entfremdung. Nun wollten die Staats- und Regierungschefs es mit Lockungen versuchen, um den Mechanismus einer positiven self fulfilling prophecy auszulösen.

Hinter dem Wunsch, die Türkei in die europäische Integration einzubeziehen, stehen handfeste Interessen. Die strategische Bedeutung des Landes, die geographische Zugehörigkeit zumindest eines Teils des Territoriums zu Europa; die politische Unterstützung für den säkularen Islam - als Gegenmodell zu einem vielerorts drohenden muslimischen Fundamentalismus. Aber solche Überlegungen haben wenig mit dem Annäherungs- und Beitrittsprozess zu tun. Ein Kandidat muss fest umrissene Bedingungen erfüllen, um EU-Mitglied zu werden.

Den Vorbereitungsstand listet die EU-Kommission in jährlichen Fortschrittsberichten auf; der letzte erschien im November 2000 - im Fall der Türkei eine Liste der Enttäuschungen. Bei den politischen Bedingungen, den "Kopenhagen-Kriterien" - funktionierende Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Garantie der Menschenrechte, Minderheitenschutz - gibt es große Mängel. In den elf Monaten nach dem Helsinki-Beschluss hat sich wenig geändert. "Die Folter ist zwar nicht die Regel, aber dennoch weit verbreitet, und die freie Meinungsäußerung wird von den Regierungsbehörden regelmäßig eingeschränkt" schreibt die EU-Kommission.

Als besonders problematisch gelten der Einfluss der Generalität im Nationalen Sicherheitsrat, der das Primat der Politik über das Militär in Frage stellt, die Korruption und die Staatssicherheitsgerichte, auch wenn die Militärrichter aus ihnen entfernt worden sind. Von einer Gleichstellung der Frauen kann keine Rede sein, die Gesetze enthalten massive Diskriminierungen; nur der Mann hat als Familienoberhaupt Sorgerecht; "Ehrenmorde" in der Familie, die das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellen, sind weiter an der Tagesordnung.

Diese Beobachtungen betreffen nicht Petitessen, die sich durch kleinere oder größere Gesetzesänderungen beheben lassen. Dahinter verbergen sich gravierende Unterschiede im Bild von Staat, Gesellschaft und Individuum. Und immer wieder scheint ein Grundmuster auf: Die Türkei zögert, sich den Regeln der Clubs unterzuordnen, denen sie bereits angehört oder beitreten will. Sie ist seit Jahrzehnten Mitglied des Europarats, hat aber bis heute die Todesstrafe nicht abgeschafft. Der Europäische Gerichtshof hat festgestellt, dass Ankara die Eigentumsrechte der zypriotischen Griechen systematisch missachte und die Türkei zu Schadensersatzzahlungen verurteilt. Ankara weigert sich - für den Ministerausschuss ein "unerhörtes Vorkommnis", dass ein Europaratsmitglied solche Urteile nicht befolgt. Im Sommer 2000 hat die Regierung endlich die UN-Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte unterzeichnet. Aber diese Selbstverpflichtungen werden nicht eingehalten.

Das provoziert die brisante Frage: Was spricht dafür, dass die Türkei sich als EU-Mitglied anders verhalten wird? Viele Äußerungen türkischer Politiker legen zwei Missverständnisse nahe. Erstens ist oft zu hören, die Kriterien seien nicht so ernst zu nehmen; sie stünden zwar auf dem Papier, seien aber in der Praxis nicht bindend. Zweitens seien sie eine Art Unterdrückungsinstrument Brüssels, um Bewerber zu domestizieren. Das lasse sich aber ein stolzes und mächtiges Land nicht gefallen. Man werde verhandeln und sich irgendwo in der Mitte treffen. Mit anderen Worten: Es fehlt das Bewusstsein, dass die EU-Regeln für alle Mitglieder verbindlich sind und es keine Abstriche gibt. Dass sich allenfalls über Übergangsfristen in Einzelbereichen verhandeln lässt. Oder wäre das vorstellbar, dass die heute 15 und demnächst womöglich 27 Mitglieder die EU-Vorschriften und ihre nationalen Gesetze nach türkischen Wünschen verändern?

Das Gesamturteil vom November 2000: Die Türkei ist keine Demokratie im europäischen Sinne, sie weist lediglich die Grundmerkmale eines demokratischen Systems auf. Sie ist auch kein Rechtsstaat.

Nun mag man sagen: Der November 2000 ist lange her. Man braucht die Einschätzungen der EU-Kommission auch nicht für sakrosankt zu halten. Doch leider ging es in diesem Stil weiter. Als Ankara in diesem Frühjahr sein "Nationales Programm" für den EU-Beitritt vorstellte, war die Enttäuschung im Westen groß. Zu uneingeschränkter Meinungsfreiheit will sich die Türkei weiter nicht verpflichten, mit der Abschaffung der Todesstrafe möchte sich das Parlament erst mittelfristig befassen, von kurdischem Fernsehen und Kurdisch-Unterricht in der Schule ist keine Rede. Selbst türkei-freundliche Medien sprachen von einem "ewigen Kandidaten", der offenbar gar nicht vorhabe, die Bedingungen zu erfüllen.

Zudem hat ein Argument, mit dem sich die Türkei positiv von anderen Kandidaten abheben wollte, an Gewicht eingebüßt: der wirtschaftliche Erfolg und die Bedeutung des Landes mit seinen 65 Millionen Einwohnern als riesiger Markt. Seit Monaten herrscht eine schwere Wirtschaftskrise, die türkische Lira ist im Sturzflug, Inflation und Arbeitslosigkeit wachsen beängstigend. Schon davor hatte die EU-Kommission festgestellt, dass die Türkei angesichts eines viel zu großen staatseigenen oder vom Staat abhängigen Sektors sowie der Subventionen und Vergünstigungen nicht als funktionierende Marktwirtschaft zu betrachten sei und dass nur ein Teil der Betriebe den Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt aushalten würde.

Der EU-Bericht und die übrigen Beobachtungen über das internationale Verhalten der Türkei legen den Gedanken nahe, dass die europäische Integration der Türkei nicht eine Frage weniger Jahre, sondern eher mehrerer Jahrzehnte ist. Insgesamt bietet sich ein Bild der - nein: vor dem Wort "Rückständigkeit" scheut man zurück. Sagen wir: ein Bild der Ungleichzeitigkeit. Der heutige Zustand der EU-Staaten wie der Türkei ist die Synthese aus Jahrhunderten Geschichte, die Identität, Selbstwahrnehmung und politische Kultur geprägt haben. Im Westen eine Synthese aus Christentum, Aufklärung, industrieller Revolution und ökonomischer Emanzipation breiter Gesellschaftsschichten. In der Türkei aus Islam, orientalischer Herrschaft mit Patronage-, Klientel- und Pfründesystem sowie der ausgebliebenen Aufklärung.

Gewiss kann man die Defizite der heutigen Türkei gegenüber dem europäischen Modell nicht pauschal dem Islam anlasten: die Mängel an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das nationalistische Denken und die Überhöhung des Militärischen, die es diesem Staat erschweren, sich bei Interessenkonflikten gütlich zu einigen. Es ist ja nicht so, dass muslimische Gesellschaften einen genetischen Webfehler haben, der sie unfähig zur Demokratie macht.

In einem Punkt liegt die Verbindung zwischen Gesellschaftsmodell und Religion jedoch nahe: bei der Stellung des Individuums. Die westliche Demokratie räumt dem Einzelnen eine sehr hohe Stellung ein, seine Würde, seine Grundrechte haben Vorrang vor dem Gemeinschaftsinteresse. Im Islam, aber auch in der türkischen Verfassung ist es umgekehrt: die Gemeinschaft der Gläubigen (Umma) und, säkular, der Staat haben Vorrang vor dem Individuum. Freilich haben die christlichen Staaten auch lange gebraucht, um überkommene Herrschaftsformen wie Feudalstaat oder Absolutismus zu überwinden und zum Bürgerstaat zu gelangen.

Die Gretchenfrage ist: Was können der Islam und seine Traditionen in türkischen Augen zur Modernisierung, zur Europäisierung, zur Demokratisierung beitragen? Wo sind die Gesellschaftsschichten, die sich an einem Leitbild orientieren, in dem religiöse Tradition und moderner westlicher Staat zusammenpassen?

Bisher dominieren ganz andere Denkmodelle. Der türkische Staatsapparat und insbesondere das Militär sehen in den Kräften, die sich auf islamische Werte berufen, eine Gefahr für das säkulare Modell, die sie deshalb im Zweifel mit polizeilicher und notfalls auch militärischer Gewalt bekämpfen. Mit diesem Denken - säkulares Militär gegen militanten Fundamentalismus - sind sie selber ein Hindernis für die Demokratie.

Aufgeklärt und in der Moschee

Umgekehrt denken viele Intellektuelle, dass sie die angestrebte Demokratisierung nicht ohne eine generelle Verwestlichung der Gesellschaft erreichen können. Was wiederum eine Gefahr für den Glauben und die religiösen Traditionen mit sich bringt. Darum dreht sich, zum Beispiel, auch der Machtkampf im Iran.

Eine Demokratisierung ohne De-Islamisierung, ein Denkmodell für eine sanfte Verwestlichung muslimischer Gesellschaften, in dem Demokratie und Rechtsstaat keinen Gegensatz zur religiösen Tradition bilden, gibt es noch nicht. Geschweige denn ein gelungenes Fallbeispiel. Eine kleine säkulare Oberschicht genügt dafür auch nicht. Es müsste eine große gesellschaftliche Koalition werden: aus Gläubigen, die die westliche Demokratie nicht als Angriff auf ihre Lebensform empfinden; aus aufgeklärten Intellektuellen, die in die Moschee gehen.

Diese Leistung kann die Europäische Union, kann der Westen der Türkei nicht abnehmen. Die müssen ihre Bürger schon selbst vollbringen. Was könnte EU-Europa dann noch davon abhalten, die Türkei in ihrer islamischen Identität zu akzeptieren?

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