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Yuriy Gurzhy legt „Lieder der Revolutionen im Humboldt Forum auf.

© Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss/Stefanie Loos

Ukrainisches Kriegstagebuch (119): Lieder der Revolutionen im Humboldt Forum

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

18.3.2023
Zur Zeit nehme ich nur selten DJ-Jobs an. Bei den wenigen Gelegenheiten in den letzten Monaten, wo ich aufgelegt habe, stellte ich fest, dass es mir enorm schwer fällt, gute Laune zu verbreiten, so wie jeder guter DJ-Kollege es tun soll. Um etwas verbreiten zu können, müsste man es haben, und wenn ich Musik aufgelegt hätte, die meiner Laune entsprechen würde, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Leute dazu getanzt hätten – eher würden sie vor Angst davonlaufen.

Trotzdem sagte ich sofort zu, als ich die Einladung aus dem Humboldt Forum bekommen habe. Weil es eine Ehre ist, diesen Raum bespielen zu dürfen und auch weil es sich spannend angehört hat – ein DJ-Set mit Revolutions- und Protestliedern zum Wochenende der Demokratie.

Als jemand, der in der Sowjetunion aufgewachsen ist, kann ich behaupten, dass solche Lieder mich jahrelang begleitet haben und manche für immer auf der Festplatte meines Gehirns gespeichert sind. Ich kann mich vielleicht nicht mehr an die Melodie des neuen Depeche-Mode-Songs erinnern, den ich mir erst gestern angehört habe, doch sämtliche Lieder über die winkende rote Fahne, den roten Oktober und den jungen Lenin würde ich wahrscheinlich heute noch von Anfang bis Ende singen können, obwohl ich sie seit Jahren nicht mehr gehört habe. 

Als Kind kam ich nicht auf die Idee, Fragen zu stellen. Die Tatsache, dass diese Songs zum Soundtrack meiner Kindheit gehörten und Teil des Alltags waren, ist etwas ganz Natürliches und Selbstverständliches gewesen. Damals stellte ich mir die tapferen Revolutionäre des frühen 20. Jahrhunderts vor, die diese heroischen Lieder im Chor sangen, während sie auf den Plätzen von Petrograd gegen den Tsar und seine Armee heroisch kämpften und fand erst später heraus, dass viele von ihnen erst nach der Oktoberrevolution geschrieben wurden – und zwar von professionellen Komponisten und Dichtern. 

Wie viel Schaden und Leid die russische Revolution gebracht hat, auch für die Ukraine, habe ich erst später mitbekommen, und je mehr ich erfuhr, desto stärker wurden meine Wut und Ablehnung. Damit war ich nicht allein, oft erkannte ich meine Gefühle in den Songs der neuen, modernen Revolutionäre – der Generation der Rockmusiker, die keine Angst zu haben schienen, eigene Protestlieder zu singen. Auch sie haben ihre Rolle beim Zusammenbruch der Sowjetunion gespielt. Umso überraschender ist es, zu beobachten, wie einige von ihnen heute entweder schweigen oder pro-putinistische Propaganda produzieren. Noch schlimmer, manchmal singen sie ihre alten Lieder unter den Z-Flaggen auf Volksfesten.    

Meine Wahrnehmung von der Protestmusik hat sich über die Jahre verändert und wenn ich heute daran denke, stelle ich mir als Erstes nicht die Werke sowjetischer Komponisten vor, sondern Pete Seeger und Joan Baez, aber auch MC5, Nina Simone, Bob Marley, Peter Tosh und The Clash. Oder die Marseillaise im Reggae-Arrangement von Serge Gainsbourg. Oder „Clandestino“ von Manu Chao. Oder Geoff Berners „Daloy Polizei“. Diese und viele andere Platten und CDs habe ich für mein heutiges Set im Humboldt Forum eingepackt. 

Während ich aufbaue und die ersten Songs auflege, denke ich daran, dass die aktuellste Protestmusik heute in der Ukraine gemacht wird. Ja, die ukrainische Musikgeschichte der letzten zehn Jahren ist Protestmusikgeschichte! Von den Liedern, die während der Revolution der Würde entstanden sind und bis zu den aktuellen, die ohne Ausnahmen Widerstandsongs sind – geschrieben in den Schutzbunkern oder in den Gräben an der Front, aufgenommen zwischen den Blackouts und Luftangriffsalarmen, würde ich sie als reinste Form der Protestmusik bezeichnen.

Ihre Schöpfer*innen machen kein Geld damit, sie haben keine Möglichkeiten, lukrative Konzerte zu spielen, ihre Produktionen werden nicht von großen Plattenfirmen herausgebracht… Und deswegen werden heute neben „Guns Of Brixton“ und „Get Up Stand Up“ auch „Oy u luzi chervona kalyna“ und „russian War Ship, Go Fuck Yourself!“ aufgelegt. 

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