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10.06.2023, Ukraine, Oleschky: In der überfluteten Stadt Oleschky stehen Häuser unter Wasser. Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine entwickelt sich rasch zu einer langfristigen Umweltkatastrophe. Sie beeinträchtigt die Trinkwasserversorgung, die Lebensmittelversorgung und die Ökosysteme, die bis zum Schwarzen Meer reichen. Foto: Uncredited/AP +++ dpa-Bildfunk +++

© dpa

Ukrainisches Kriegstagebuch (142): Ein Versuch, kurz nicht an die Überflutung zu denken

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

8.6.2023
Lese ich über heutige Künstler*innen, so fällt mir auf, wie bei der Beschreibung ihrer Musik immer wieder die Begriffe „alternative“ und „Indie“ verwendet werden. In der zeitgenössischen Welt ergeben sie für mich aber kaum Sinn – früher unterschieden sich „independent“ Rockbands dadurch, dass sie ihre Alben von unabhängigen Plattenfirmen veröffentlichen ließen, „Indie“ und „alternative“ standen für das Gegenteil von „Major“ und „Mainstream“. Inzwischen ist es nicht mehr so klar ersichtlich, und es kommt vor, dass „alternative“ sich genauso wie der Rest anhört, während eine junge Indie-Band bei Universal unter Vertrag stehen kann.

Zum ersten Mal hörte ich diese Begriffe in den späten Achtzigern. Die Underground-Szene, die damals in Charkiw aufblühte, war bunt, verrückt und alternativ – im wahrsten Sinne des Wortes. Erst viel später wurde mir klar, welches Glück ich hatte, bei den Konzerten dieser Bands anwesend zu sein, sie haben mich nicht nur als Fan tief beeindruckt, sondern auch als Musiker beeinflusst. Ich bin mir sicher, ich wäre eine völlig andere Person geworden, wenn ich mit 16 zu Gigs der Goldenen Zitronen, Blumfeld oder Nirvana gegangen wäre.

Von den Gruppen aus dem Charkiwer Verein „Novaya Scena“ (deutsch: Die Neue Szene) sind heute, drei Jahrzehnte später, nur zwei aktiv, Foa Hoka und Kazma Kazma. Neue Veröffentlichungen von ihnen gibt es selten, mit Konzerten sieht es im Moment auch nicht gut aus. Aber ihre Musik wurde nicht vergessen und es gibt nach wie vor Menschen, die sie schätzen. Einer von ihnen ist Alex Pehlemann, ein Experte für die osteuropäischen Subkulturen, ein Autor und DJ, den ich Anfang der 2000er kennengelernt habe.

Alex lebt in Leipzig, hier haben wir uns kurz im April bei der Buchmesse gesehen, wo er die Neuauflage seines Buches „Warschauer Punk Pakt“ präsentierte (dass es nachgedruckt werden musste, machte auch mich ein bisschen stolz, da ich einen Text über die Ursprünge des ukrainischen Punk beigetragen habe).

Gerade bin ich wieder in Leipzig und wir haben uns verabredet. Zwischen den Proben habe ich täglich ein paar Stunden Zeit, gestern und vorgestern verbrachte ich sie beim Scrollen durch Meldungen und Bilder aus den ukrainischen Überschwemmungsgebieten. Ich freue mich, aus meiner Theaterwohnung rauszukommen und an etwas anderes denken zu können (zumindest hoffe ich, dass es klappt). Wir treffen uns in der Karl-Heine-Straße beim Kiosk mit den georgischen Spezialitäten.

Natürlich kommen wir in unserem Gespräch beim Chatschapuri irgendwann auf die ukrainische Musik aus der Zeit meiner Jugend, tauschen ein paar Anekdoten und Hörtipps aus und reden darüber, wie toll und wichtig es ist, dass eine Zusammenstellung mit den Songs der Bands aus Charkiw und Kiew bereits in den frühen Neunzigern in Deutschland auf CD erschienen ist.

Mir fällt dabei auf, dass ich, wenn ich auf diese Ära zurückblicke, überwiegend an die Musik aus der Ostukraine denke. Auf dem Weg zur Probe unternehme ich eine schnelle Recherche zu der Szene im Westen des Landes, schreibe meinen Freunden in Lwiw und Iwano-Frankiwsk, ob sie mir Namen oder Webseiten zum Thema empfehlen könnten – und bekomme sofort einige spannende Links.

Ein älterer Musiker schickt mir ein Album der Band, die in den frühen Neunzigern eine bizarre Mischung von Surf, Punk und New Wave spielte. Auf meine Frage, was aus den Musikern geworden ist, schreibt er zurück: „Der eine Gitarrist war jahrelang in der Klapse, ist wahrscheinlich tot, der andere hat neulich einen Eurovision-Hit mitgeschrieben, der Bassist zog nach russland und wurde zum erfolgreichen Geschäftsmann, der Drummer sitzt im Knast wegen eines Mordes.“

Ich bin pünktlich zum Probenbeginn da, auf die Schauspieler wartend, lese ich meinen Facebook-Feed. Die Ukrainer sammeln weiterhin Spenden, inzwischen um die Evakuierung aus Cherson und anderen überschwemmten Orten zu organisieren. Das Haus der Künstlerin Polina Rayko im Dorf Oleshky, wo jede Fläche von ihr bemalt ist, wurde überflutet. Gleich zwei junge Frauen, die ich kenne, haben ihre Männer verloren.

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