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Vielleicht eine Testaufnahme von Alexander Gurzhy.

© Alexander Gurzhy

Ukrainisches Kriegstagebuch (192): Was bei meinem Opa im Bücherregal stand

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Fotografie war für meinen Vater mehr als bloß ein Hobby – über viele Jahrzehnte war es seine wahre Leidenschaft. Von den zahllosen Fotoalben, die sich in den Schränken und Kommoden unserer Charkiwer Wohnung stapelten, schaffte es im Oktober 1995 nur ein Teil mit uns nach Deutschland – aufgrund des umfangreichen Gepäcks und der strengen Gewichtsbeschränkungen des Busunternehmens, das uns hierher bringen sollte, durften wir nicht alles mitnehmen.

In den frühen Neunzigern hatte mein Vater kaum noch die Kamera in die Hand genommen, nach unserer Ankunft in Deutschland erwachte jedoch seine Leidenschaft für die Fotografie wieder zum Leben. Nun füllte sich die Potsdamer Wohnung meiner Eltern langsam, aber sicher mit neuen Bildern – die Reflexion des Himmels in einer Pfütze auf der Brandenburger Straße, die Schattenspiele der Skulpturen vom Park Sanssouci und die kunstvoll gestalteten Fenstergitter und extravaganten Türgriffe des Holländischen Viertels.

Im August 2019 starb mein Vater in Potsdam. Ein Jahr später folgte ihm sein jüngerer Bruder in Charkiw. Ende Februar 2022 führte ich ein Telefonat mit meinem Cousin, an das ich mich heute noch erinnere. Unsere Heimatstadt lag rund um die Uhr unter russischem Raketenbeschuss. „Vielleicht klingt das jetzt zu hart, aber irgendwie bin ich froh, dass unsere Väter diesen Wahnsinn nicht mehr miterleben müssen, weißt du?“, sagte ich, und mein Cousin meinte, dass er schon seit Tagen den gleichen Gedanken nicht mehr aus dem Kopf bekomme.

Weg mit den russischen Büchern

Vergangenes Jahr war ich erstaunt, als wir im Keller der elterlichen Wohnung eine Kiste mit Schwarzweißfilmen aus den späten 1960er Jahren entdeckten. Die Filme ließ ich scannen und stellte fest, dass ich die darauf befindlichen Bilder noch nie zuvor gesehen hatte. Seitdem kehre ich oft zu diesen Fotos zurück. Ich betrachte Charkiw, wie es nach diesem aktuellen Krieg wahrscheinlich nicht mehr sein wird.

Ich erkenne einige der abgelichteten Menschen und denke daran, dass ich über ihr weiteres Leben viel mehr weiß als sie selbst in dem Moment, als mein Vater sie fotografierte. Ich bin unsicher, ob jemand außer mir daran interessiert wäre, aber ich habe trotzdem begonnen, an einem Buch zu arbeiten, das die Bilder meines Vaters enthalten soll, ergänzt durch meine eigenen Geschichten dazu.

Bei einigen dieser Bilder frage ich mich, ob es sich möglicherweise um Testaufnahmen handelt. Der Weg zu einem guten Foto war damals viel länger als heute, bei den Kameras der Analogzeit musste man jeden Parameter selbst einstellen. Trotzdem finde ich sie höchst interessant – zum Beispiel diesen Schnappschuss vom Bücherschrank in der Wohnung meiner Großeltern väterlicherseits.

Ich zoome näher heran, um die Bücher auf den Regalen genauer zu betrachten. Dort oben sind die gesammelten Werke von Heinrich Mann, unten habe ich zehn Bände von Lenin gezählt (da nur ein Teil des Schranks im Foto zu sehen ist, hege ich den Verdacht, dass links noch mehr Lenin-Bände vorhanden waren). Mein Großvater Sergey Gurzhy, den ich leider nie richtig kennenlernen konnte, da er ein Jahr nach meiner Geburt verstarb, galt laut Aussage meiner Mutter als überzeugter Kommunist.

In seinem Pass war als Nationalität „griechisch“ angegeben. Er leitete das Institut für Landtechnik und verfasste einige Bücher, darunter zum Beispiel „Traktionseigenschaften von C-65-Traktoren bei verschiedenen Arbeiten und deren Belastung unter verschiedenen Bedingungen“. Auf dem Bild kann ich leider keines von seinen Büchern erkennen.

Opa Sergey war russischsprachig, und so ist es nicht verwunderlich, dass sich in seinem Bücherschrank russische Bücher befinden. Wenn man heute meine Bücherregale betrachtet, fällt auf, dass kaum noch russische Bücher vorhanden sind, obwohl russisch auch meine Muttersprache ist. In den letzten Jahren habe ich mein Interesse an der Literatur russischer Autoren komplett verloren. Ich hoffe, mein Großvater hätte das verstanden.

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