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Die Band Scorpions beim Moscow Music Peace Festival im Jahre 1989.

© Getty Images/Koh Hasebe/Shinko Music

Ukrainisches Kriegstagebuch (198): Hardrock, Klima und die Dunkelheit in Charkiw

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

28.3.2024
Eine Schallplattenbörse besuchte ich zum ersten Mal 1991 in Charkiw und war zutiefst enttäuscht, als ich feststellen musste, wie wenig ich mir leisten konnte. Die meisten Platten, die dort angeboten wurden, kamen aus dem Ausland und waren, für einen 16-Jährigen wie mich, einfach zu teuer.

An diesem Tag hatte ich nichts Besseres zu tun, als die Albencover genau zu untersuchen. Die Hüllen von Pink Floyd und der deutschen Hardrock-Band Scorpions hatten es mir besonders angetan. Auf dem Scorpions-Album „Blackout“ war ein Typ mit einem Kopfverband und zwei Gabeln in den Augen zu sehen.

Obwohl ich recht gut Englisch sprach, kannte ich das Wort Blackout nicht. Aber zusammen mit dem Coverbild wirkte es bedrohlich – genau so, wie man es von einer Hardrock-Band erwartet, und das genügte mir damals.

34 Jahre später wird mir plötzlich bewusst, wie Platten und Blackouts in mein deutsch-ukrainisches Gespräch von heute eingeflossen sind.

Mit Tetiana Pylypchuk, der Direktorin des Literaturmuseums in Charkiw, unterhalten wir uns über die Schallplattenproduktion unseres letztjährigen Projekts SkovoroDance. Ich bin aufgeregt – in meiner Karriere als Musiker gab es zig CDs, aber noch nie eine echte Platte.

Charkiw versinkt in der Dunkelheit

Wenn ich über etwas nachdenken muss, halte ich an – so wie jetzt. Hoffentlich störe ich die vorbeieilenden Passanten an dieser geschäftigen Ecke der Pappelallee und Schönhauser Allee nicht.

Ich halte an der Litfaßsäule mit der Misereor-Werbung inne. Ein sympathischer junger Klimaaktivist mit langen Haaren lächelt mir entgegen: „Du und ich schützen das Klima in Südafrika – mit zwei Euro die Welt verändern.“

Ich lese diesen Satz, während ich auf Tetianas Whatsapp-Nachricht warte. „Wir sollten vielleicht über eine Reihe von Präsentationen nachdenken, wenn die Platte da ist“, schreibt sie. „Was hältst Du von der Idee?“

Als ich nachfrage, wie es ihr geht, antwortet sie: „Eigentlich ganz gut. Wir haben ja einen Ecoflow im Museum.“ Ecoflow ist der Markenname für tragbare Kraftwerke, die sich in der Ukraine während der letztjährigen Stromausfälle großer Beliebtheit erfreuten.

Die Hoffnung, die schweren Stromausfälle nach den russischen Bombardements überwunden zu haben, wurde jedoch jäh enttäuscht. Der Luftangriff vom 25. März fügte dem Charkiwer Heizkraftwerk schwere Schäden zu, und nun versinkt die Stadt fast vollständig in Dunkelheit.

Das Gefühl der absoluten Finsternis

Abendfotos aus Charkiw auf den Facebookseiten meiner Freunde zeigen Straßen ohne Licht, Gebäude mit spärlich erleuchteten Fenstern und eine gespenstische Stille, durch die kein einziges Auto fährt.

Wie sich diese absolute Finsternis anfühlt, habe ich bereits im Dezember 2022 bei meinem ersten Heimatstadtbesuch nach Beginn der großen Invasion erfahren und muss gestehen, es ist eine unheimliche Erfahrung, die ich nicht unbedingt noch einmal durchleben möchte.

Ich frage mich, ob es hierzulande irgendwo auch eine Litfaßsäule gibt, an der Klimaaktivisten und Umweltschützer die Vorbeiziehenden auf die Auswirkungen der täglichen russischen Bomben- und Raketenangriffe auf die Umwelt in der Ukraine aufmerksam machen?

Zwei Tage zuvor trafen russische Raketen das Viertel, in dem ich meine ersten 13 Lebensjahre verbracht habe. Viele meiner Freunde lebten dort, einige sind noch da. Ich habe ihnen geschrieben.

„Die Rakete erwischte das Haus nebenan“, antwortete einer. „Ich war in der Innenstadt, um mit meinen Kollegen den Plan für die Vorlesungen zu koordinieren, als es passierte.“

Auch ein anderer war zum Glück gerade woanders. „Ich schlafe seit Tagen in der Badewanne, angezogen“, schrieb er, „aber das macht nichts, wir haben schon Schlimmeres erlebt.“ Das Haus, in dem meine Klassenkameradin jahrelang lebte, liegt in Ruinen, sie ist aber vor Kurzem nach Kiew gezogen.

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