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Kultur: Umberto Ecos neuer Roman: Die Kunst des Lügens

Es ist noch immer wie ein Filmriss in unserem Bewusstsein. Zwischen dem in Dramen, Mythen und Mosaiken, in Tempeln, Pyramiden, Skulpturen weiterlebenden Bild der Antike und ihrem stolzen Widerschein in der Renaissance klafft ein Loch.

Es ist noch immer wie ein Filmriss in unserem Bewusstsein. Zwischen dem in Dramen, Mythen und Mosaiken, in Tempeln, Pyramiden, Skulpturen weiterlebenden Bild der Antike und ihrem stolzen Widerschein in der Renaissance klafft ein Loch. Ein ziemlich dunkles. Das Mittelalter: Es scheint mehr Kälte und Nebel zu verströmen als alle Frühgeschichte; die Gassen der Städte eng und düster, allein die Kathedralen schwingen sich auf zum Himmel, doch das Gotische ist nicht nur das Hocherhabene, es ist auch das Schaurige; und glimmt mal ein Licht, dann wohl nur über den Pergamenten eines Mönchs, oder es brennen wieder ein paar Pesttote oder eine Hexe, ein Ketzer. Keine verlockende Zeit.

Irrtum, ruft da ein sehr weiser, wohlgerundeter Herr aus Italien, Irrtum, es ist eine spannende, eine fabelhafte, eine wunderbare Zeit! Und Herr Eco hat ein gewaltiges Echo. Seit zwanzig Jahren führt er seinen literarischen Kreuzzug für ein strahlendes, schillernderes Bild jener Epoche und arbeitet, wie er sagt, an einer "Enzyklopädie des besseren Mittelalters".

Recht hat er ja, die Jahre zwischen 700 und 1400 waren nicht schlechter als andere Zeiten - zumal die "Große Pest" Europa als Schwarzer Tod erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts überzog und die Hochzeiten der Inquisition oder der Dreißigjährige Krieg zur Ära der Renaissance und des Barock gehören. Umberto Ecos Strategie aber ist, dass er nun nicht verspätet bei den Rittern der Tafelrunde einkehrt oder das Nibelungenlied neu anstimmt. Vielmehr schließt er die üblichen Motive der Ritterromane mit Turnieren, Troubadouren und den Minnen unter Zinnen fast völlig aus. So auch in seinem neuen, 600 Seiten starken Roman "Baudolino", der letzten Herbst in Italien erschien und ab heute auch hunderttausendfach in den deutschen Buchhandlungen liegt.

Wie bei seinem Welterfolgsdebüt, dem "Namen der Rose", betreibt Eco seine Mittelalter-Aufklärung nicht als liebliche Aufhellung. Sondern mit inszenierten Geheimnissen, Mordnächten, Intrigen. Aber selbst wenn Ecos Helden durch Sümpfe und Blutlachen der Geschichte waten, der wahre Kampf ist immer in den Köpfen, und dort regiert ein durchaus trockener (eher angelsächsischer) Humor, dort blitzen Logik, Dialektik, Sophistik. Und weil Umberto Eco jetzt noch einmal an die Welt der "Rose" anknüpfen wollte, wird auch "Baudolino" am Ende wieder zum Kriminalroman. Zum Historien-Krimi, dessen Opfer auf eine hier natürlich nicht zu verratende Weise ein deutscher Kaiser ist. Ein deutscher Kaiser und Märchenfürst: Friedrich Barbarossa, der 1190 auf dem Kreuzzug gen Jerusalem in einem kleinasiatischen Fluss ertrank - und seitdem, so munkelt die Sage, im thüringischen Kyffhäuser auf seine Wiederkehr wartet.

Umberto Eco lässt ihn nun in seiner ganz eigenen Roman-Saga wiederkehren. Dabei spielen allerdings die deutschen Legenden um Friedrich Rotbart die geringste Rolle. Es geht in "Baudolino", auch wenn sich das Zeit- und Sittengemälde später ins fast Unendliche (und sehr Ungefähre) weitet, zu allererst um Italien. Dort, in den einstmaligen Wäldern und Sümpfen der Po-Ebene, beginnt im Frühjahr 1154 die neue alte Geschichte. Der 13-jährige Bauernjunge Baudolino besitzt die Gabe, jede fremde Sprache, die er hört, in kürzester Zeit selbst zu sprechen. Und sein Kopf ist wie ein Schwamm, der alles Wissen und allen Witz der Welt in sich aufsaugt und zugleich in eine Quelle der Phantasien und Einbildungen, der verstandeshellen Logik und der verblüffenden Spekulation verwandelt. Kurzum, Baudolino ist Umbertos Alter Ego - ein junger Alter Eco. Und wo in Baudolinos Kindheit die Dörfler hausen, sieht der Romanheld bald eine Stadt wachsen, jenes Alessandria, heute Bischofssitz zwischen Turin und Mailand, wo fast acht Jahrhunderte später, im Jahr 1932, auch der Romanautor, Philosoph und weltberühmte Semiotikprofessor Umberto E. geboren wird ...

Baudolino, der von Einhörnern träumt und Kriege und Gemetzel aus den Kulissen der Kindheit - wie Grimmelshausens Simplicius - noch als Naturvorgänge erlebt, Baudolino trifft in der Abenddämmerung im Wald einen verirrten Ritter. Ein Deutscher, sein Sprach-Ohr erkennt das Idiom, den er vor den Gefahren der Nacht in der Hütte seiner Eltern bewahrt. Dem fremden Gast gefällt sogleich Baudolinos Fabulierlust und Intelligenz, dazu trägt der schlaue Knabe, der doch nicht ahnt, wen er da vor sich hat, ganz nebenbei auch mit einer erfundenen (aber politisch sehr praktikablen) Weissagung zum künftigen Regierungsglück des deutschen Kaisers bei.

Dieser nämlich streitet, um seine Macht als Herrscher des weströmischen Reichs zu befestigen, soeben mal wieder mit dem Papst und den ewig aufmüpfigen oberitalienischen Städten. Da kommt ihm ein mit offenbar genialen Instinkten ausgestattetes Landeskind gerade recht. Also nimmt Friedrich Rotbart den gernegroßen Baudolino am nächsten Morgen mit in sein Heerlager, gibt ihn darauf in die Erziehung seines Hofchronisten und geistlichen Lehrherrn, des Bischofs Otto von Freising. Später wird Baudolino, als Adoptivsohn des damals noch kinderlosen Kaisers, zu weiteren Studien nach Paris geschickt, wo ihm galante Ehebrecherinnen und eine multikulturelle Freundesschar die Universität des Lebens lehren - während sein eigener Kopf die Tricks der "Pariser Philosophen" ohnehin schnell durchschaut und übertrifft.

Hier ist Eco in seinem Element. Als Fabulierer und Wissenschaftler. Souverän verknüpft er das Grimmelshausensche Schelmengenre mit der Parodie des Bildungsromans und spielt für das geübte Auge auf mehreren Ebenen. Da ist der Fingerzeig künftiger Weltgeschichte, als Eco in einem Nebensatz nur andeutet, dass Friedrich den verfolgten Juden nach einem Pogrom seinen Schutz gewährt und für sie, um "dort sicher zu leben", die Stadt Nürnberg wählt.

Und gleich daneben die Volkskomödie: wenn Baudolino beim Städtebau nach dem Zweck einer neuartigen Kranwinde fragt, und ihm ein paar gewitzte Genueser Handwerker zur Antwort geben, sie konstruierten "eine Maschine, um sich den Pimmel zu kratzen". Kurz darauf rettet Baudolino das umzingelte Alessandria mit einer gleichsam verkehrten trojanischen List: Er lässt seines Vaters letzte, halb verhungerte Kuh Rosina mit Getreide mästen und sie vor die Tore treiben, auf dass die kaiserlichen Belagerer denken, wenn schon eine Kuh (deren Name auf Don Quichottes Rosinante anspielt) sich den Bauch derart vollschlagen kann, dann müssen die Vorräte der Verteidiger noch schier unerschöpflich sein. Statt eines längeren Krieges hilft so ein schneller Frieden.

Warum aber diese Zeit, Ende des 12. Jahrhunderts? Wer wie Eco als Geisteswissenschaftler die Theorie des modernen Romans maßgeblich beeinflusst und die Idee des "offenen Kunstwerks" formuliert hat, der webt einen Historien-Stoff natürlich als vielfädige Textur. Schon beim "Namen der Rose" war das Hauptvergnügen, durch die Abgründe des mittelalterlichen Klosterkrimis zugleich ins Labyrinth heutiger Literaturdetektive zu gelangen. Und wieder hat Eco einen genialen Grundeinfall gehabt. Denn Friedrich Barbarossa ist wohl so oft wie kein anderer deutsch-römischer Herrscher über die Alpen gezogen. Der Historiker hat in diesem großen Ruhelosen einen geradezu besessenen Italien-Reisenden entdeckt - den Stammvater des deutschen Italien-Tourismus. In sieben Heerzügen, oft über Jahre hin, hat der Schwabe Friedrich den Stiefel Europas ganz unter den seinen zu zwingen versucht, im Wettstreit mit dem Papst und den zwischen Venedig, Genua, Florenz und Mailand, zwischen der Loyalität gegenüber Rom und gegenüber dem Kaiser hin- und hergeworfenen Städten.

Diese Kommunen des mittelalterlichen Italiens waren in ihren Verwaltungsstrukturen und in ihrem Selbstbewusstsein bereits hochentwickelte Stadtrepubliken und, vor allem zur See, auch international operierende Handelsmetropolen. Gegenüber jeglicher Zentralgewalt verkörpern sie das regionalistische und zugleich anarchische Element - das ergibt den allegorischen Spiegel zur italienischen und europäischen Gegenwart. Baudolino wirkt als Friedrichs politischer Berater, indem er die harten militärischen Kampagnen des Deutschen immer wieder in diplomatische Aktionen, in letztlich humanere Intrigen und vorläufige Friedensschlüsse abzumildern sucht.

Die übergreifende Idee Europa existiert noch nicht im 12. Jahrhundert. Baudolino also, der auch Reliquien herstellen lässt und den Gral erfindet (und wieder verliert), er malt Friedrich ein zweites Jerusalem aus, das indische östliche Reich des Prophetenkönigs Johannes, von dem der Kaiser seine papstunabhängige Legitimation als christlich-weltlicher Herrscher empfangen soll.

"Baudolino" ist daher ein Buch, welches das Wahrlügen nicht nur zur ironisch reflektierten Bedingung aller Geschichte und Geschichten macht. Die Lehre der Lüge heißt Zivilisation, die kultivierte Beschönigung und Ausschmückung dient einer lebenswerteren Welt. Menschen brauchen Märchen, auch blutige - statt blutiger Taten. Oscar Wilde hatte das noch einfacher formuliert: Besser als schlecht erlebt ist gut erfunden!

Doch diese Ideen-Lehre korrespondiert in "Baudolino" auch mit einer gewissen Handlungsleere. Ob der Brand von Byzanz oder die Schlacht von Legnano - alles dient Eco gleich als Gesprächskulisse und zum ausschweifenden Parlando über theologische, spirituelle, esoterische Gelehrsamkeiten oder zum Rapport aller in tausend Schriften eruierter - oder fingierter - Techniken, Gewürze, Duftstoffe, Studentendrogen ("grüner Honig") oder Kleidermoden der Zeit. Das hat gelegentlich die Lebendigkeit einer riesigen Computeranimation: bunt bewegt, doch auch staffagenhaft steril. "Der Name der Rose" gewann seine Spannung aus einer präzise begrenzten Struktur: ein fester Ort und sieben Tage für alle Morde und Enthüllungen. Hier aber wird, nach Friedrichs Tod, die Reise zum Märchen-Priesterkönig zur fast unendlichen Geschichte, uferlos, auch wenn sie à la Michael Ende zu Chimären, Schattenfüßlern, Satyrfrauen und zu steinernen Flüssen führt.

Das alles ist dann mehr Aufzählung als sinnlich anschauliche Erzählung. Und obwohl Eco immer aus der Perspektive seines aller Sprachen kundigen Helden berichtet, verschenkt er fast völlig den Reiz von Dialekten, Schichten, Kulturunterschieden. Selbst leichte Landmädchen reden da so schwergewichtig vom "Tier mit acht Beinen" wie sonst nur erotisierte Kulturwissenschaftler.

Trotzdem, am Ende, wenn es an das Rätsel von Friedrichs Tod geht, ist Eco wieder ganz auf der Höhe seines kriminalistischen Witzes; und wäre dieser "Baudolino" in Burkhart Kroebers vorzüglicher Übersetzung nur etwas kürzer, er wäre noch viel kurzweiliger geworden. Aber auch gute Lügen haben manchmal lange Beine.

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