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Umziehen: Nehmen wir die Glühbirnen auch mit?

Der Suhrkamp-Verlag hat sich nach Berlin verlegt. Ein Einzelschicksal ist das nicht. Kleine Literaturgeschichte des Umzugs.

Christian Morgenstern, der für seinen Verleger Bruno Cassirer auch als Lektor arbeitete, hat mit Palmström (dem Luftmenschen) und v. Korf (dem Pragmatiker) ein Freundespaar geschaffen, das auf eine Maus stößt. Um diese nachhaltig umzusiedeln, wird eine Gitterkammer, samt dem fiedelnden Palmström als Lockvogel, aufgebaut. Morgens kommt v. Korf und lädt / das so nützliche Gerät / in den nächsten, sozusagen, / mittelgroßen Möbelwagen, / den ein starkes Roß beschwingt / nach der fernen Waldung bringt, / wo in tiefer Einsamkeit / er das seltne Paar befreit. / Erst spaziert die Maus heraus, / und dann Palmström, nach der Maus. / Froh genießt das Tier der neuen / Heimat, ohne sich zu scheuen. / Während Palmström, glückverklärt, / mit v. Korf nach Hause fährt.

Voreilige Interpreten könnten aufgrund aktueller Verlegungen vom Main an die Spree im Mäuslein eine kühne Chiffre für die Suhrkamp-Verlegerin erkennen, da „Ulla, die Maus“ so niedlich klingt! Die Symbolik liegt aber tiefer. Tatsächlich begegnet uns die Chefin in der Sensibilität des spirituell affinen Palmström, während der Macher im Hintergrund, Thomas S. alias Korf, die Erdung übernimmt. Mit der mysteriösen Maus schließlich, nennen wir sie Sigi, wird der Geist des Traditionshauses ins Offene entlassen. Uns Beobachtern bleibt als bohrende finale Frage: Wohin fahren Palmström und Korf – wo ist ein Verlag denn zu Hause?

Lyrik schwelgt in Metaphern. Umzug ist auch ein banaler Kraftakt. Verlage mögen wie virtuelle Briefkästen fusionieren, Programme und Autoren tauschen: Der Apparat samt Leistungsträgern muss erst mal von A nach B umgehoben sein. Wenige Schriftsteller würdigen die Details des dramatischen Sujets so lustvoll wie Walter Kempowski: Morgens hatten wir noch in der alten Wohnung auf grauen Packerkisten gehockt und Kaffee getrunken, beginnt „Tadellöser & Wolff“ (1971). Zu Mittag sollte schon in der neuen Wohnung gegessen werden. Die Zimmerpalme wurde dem Gärtner geschenkt, die würde man nicht mehr stellen können. (…) Schon von weitem sah ich den ausgepolsterten Möbelwagen, die Pferde mit rostroten Planen über dem Rücken und Messingschildern am Zaum. (…) Der Flügel stand noch drinnen, ich hatte also nichts verpaßt. Die Träger mit Gurten um den Leib, Haken unten dran. Sie schraubten die Beine ab; in einem Schlitten hievten sie ihn die Treppen hinauf. Sieben Zentner schwer. Die Adern quollen ihnen raus. Man vergleicht den Komfort in A und in B: Die Fenster der Wohnung gingen leider alle nach innen auf. Das werden wir schon kriegen, sagte meine Mutter.

Migration ist so alt wie die Menschheit, der Umzug – als Vokabel für routinierte Mobilität – eher jung. Im Grimmschen Wörterbuch dominiert dafür noch die Bedeutung: Ritual, Prozession. Allerdings sei die „heute lebendige Verwendung“ des Wortes „das Umziehen mit der beweglichen Habe an einen andern Ort“, heißt es da. Zitat Goethe: In den letzten Wochen bey meinem Umzug von Jena nach Weimar war ich gar zu sehr gedrängt. Es geht also um Drangsal; schon der Ur-Umzug aus dem Paradies trägt den Fluch der Entwurzelung. Und es geht um Verheißung.

Flauberts „Madame Bovary“ (1857) flieht in die Luftveränderung. Beim ersten Honoratioren-Schnack in B. plaudert man über Bücher. Eine Leihbücherei fehlt in B., der Apotheker offeriert ihr seine Bibliothek. Als Emma den Hausflur ihres neuen Heims betrat, hatte sie die Empfindung, als lege sich ihr die Kühle der Wände wie feuchte Leinwand um die Schultern. Der Kalkbewurf war frisch. (…) Im Zimmer standen Kommodenkisten, Flaschen, Gardinenstangen, Möbelstücke und Geschirr kunterbunt umher. Die beiden Packer hatten alles so stehen und liegen lassen. Sie schläft ein in dem Glauben, nach all den hässlichen Erfahrungen müsse das, was sie noch zu erleben hatte, zweifellos schöner sein.

Wieviel Hässliches muss man mitnehmen? Aus dem Berg von Kinderbüchern, die Umzugsstoff pädagogisch verarbeiten, meldet sich der Hundertfuß von Simon & Desi Ruge („Katze mit Hut“, 1980): Zuerst wischt und bohnert er auf dem Schrank, dann leimt er oben an den Seiten Leisten an, damit nichts vom Schrank herunterrollen kann. Und schließlich schafft er Nacht für Nacht seine Glühbirnensammlung ins Haus. Den ganzen Schrank belegt er oben damit. Alles nur ausgesucht schöne Stücke. Alle geputzt, sortiert und numeriert.

Das Organisieren beschreibt deutlich skeptischer Jean Cayrol („Le Déménagement“, 1956): „Hast du alles eingepackt, Cate? Nehmen wir die Glühbirnen auch mit?“ „Natürlich.“ (…) Die Wohnung war endlich leer. Seit Tagen hatten Cate und Pierre mit ständig wachsender Gereiztheit sortiert, beschriftet (…). Ein in aller Eile herbeigerufener Trödler mußte einen gewaltigen Berg von zerbrochenen Gegenständen, Gerümpel, Lampen und Schachteln wegschaffen. Dann kommen die Packer. Ein fremdes Monstersofa taucht auf. Panik. Der Einrichtungsplan haut nicht hin. „Zwischen zwei Wohnungen wird man schnell alt“, sagt die Concièrge. Umzug sei schlimmer als Krieg, klagt Cate. Man verliere seine Seele. Ihre Ehe zerbricht. Harmlos wirkt das Umtopfungsrisiko zunächst in George Simenons „Le Déménagement“ (1967). Vor dem Umzug hatten sie sich mit Bedauern von einigen Möbelstücken getrennt, die sie nicht mehr gebrauchen konnten. Jetzt betrachtete er mißmutig die Möbel, die sie mitgenommen hatten. Doch bald stürzt der Held, ein Reisebürobesitzer, ab ins schräge Milieu der Vorstadtnachbarn.

Exzentrischer inszeniert Klaus Kessler den Angriff auf eine mutationsbereite Persönlichkeit („Der Umzug“, 1986). Sein Migrant wechselt mehrfach die eigenen vier Wände: wegen Schulden, Abriss, Umwandlung des Hauses. Jedesmal schrumpft er, samt Quartier. Bald auf Hutschachtel-, Streichholzschachtel-, schließlich Nano-Format. Mit jeder Substraktion wird man weniger. Umzug gleich Abrieb. Sorgen um Suhrkamps, die nach dem Verschnaufen in einem Finanzamtbau an der Pappelallee 2012 das Nicolai-Haus in Mitte beziehen dürfen, scheinen gleichwohl unbegründet.

Damit sich der positive Umzugs-Kick einstellt, müssen die Wanderer nachhelfen. Bei Tom McCarthy („8 ½ Millionen“, 2008) werden zur Konstruktion der Wunschrealität Innenarchitekten angeheuert, gefeuert. Jetzt müssen die Fenster in der Hauptwohnung im dritten Stock wieder raus, damit wir den Flügel reinbekommen. Der Lkw ruiniert das Werk des Gartenarchitekten. Giga-Kräne mit Greifarmen rücken an. Es geht aber auch anders. Der Einzug in mein Appartement dauerte etwa zweieinhalb Stunden, heißt es bei Wilhelm Genazino („Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“, 2003). Der Kick ist hier: die bessere Arbeitsbedingung. Jetzt sah ich auf meine Unterwäsche und Strümpfe, die ich lose auf die Bücherregale verteilt hatte. Es geschah nichts, ich fühlte die Erregung eines neuen Lebens. Ich war momentweise sicher, daß in diesem Zimmer, an diesem Tisch und an dieser Schreibmaschine mein Roman losgehen würde.

Meterweise echte Lederschinken prangen dagegen im Regal des Suhrkamp-Autors Ralf Rothmann („Feuer brennt nicht“, 2009). Den Auszug belasten solche Schwerkraftartikel kaum: Wieder hält das geblümte Lastauto vor der Tür, und Herr Schmischuh mustert die Wohnung und wundert sich kaum, dass jetzt noch weniger Sachen zu transportieren sind; dieweil seine Männer sich abschleppen mit den Möbeln und Kisten, trägt er eine japanische Papierlampe (…) Hier ist der Kick: die Entwicklung eines Doppellebens mit tragischem Ausgang.

Lyrik geht weniger auf die Bandscheiben und ist, auswendig im Kopf, leichter zu transportieren als Prosa. Vor dem Wechsel des Tagesspiegels zum Askanischen Platz wurde während der letzten Konferenz an der Potsdamer Straße mit feuchten Augen Nicolas Borns definitives Umzugsgedicht rezitiert. Das Gedicht des Mannes, der 1979 im Alter von 42 Jahren starb, geht so: Dies Haus / in dem wir wohnen / wird hinter uns abgerissen / Wir geben die Schlüssel ab / beim Verwalter / so ist es / Es sind / ein paar Dialoge geschrieben / die andere sprechen / Die Bücher / machen das größte Kopfzerbrechen / Für die paar Tage bitte / keine Blumen mehr / nichts mehr einkaufen / Vier Stockwerke / das ist die Höhe / Wenn es soweit ist / muß alles sehr schnell gehen.

Schnell gehen? Sagen Sie jetzt nicht „S-Bahn“. Oder: „Schloss-Realisierung“. Wo auch immer ein Verlag sein wahres Zuhause hat: Willkommen in Berlin.

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