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Kultur: Und unterm Turm die Kathedrale

Neues Kulturzentrum in Nordrhein-Westfalen: das „Dortmunder U“ in einem imposanten Industrie-Denkmal ist Museum, Hörsaal und Club zugleich

Den Leuchtturm hat man sich bis zum Schluss aufgehoben. Das „Kunst- und Kulturzentrum für das 21. Jahrhundert“ nimmt zum Ende des europäischen Kulturhauptstadtjahres in Dortmund seinen Betrieb auf. „Dortmunder U“ wird man statt des sperrigen Titels sagen und jeder wird wissen, es handelt sich um jenes burgartige Backsteingebäude westlich des Hauptbahnhofs, auf dessen Spitze das monumentale, sechs Meter hohe vergoldete „U“ weithin leuchtet.

Heute ist es das Wahrzeichen Dortmunds. Früher beherrschte es ein weitläufiges, historisch gewachsenes Brauereiareal. 1927 als zentrales Gär- und Kellereihochhaus der Dortmunder Union Brauerei errichtet, stand es symbolisch für das örtliche Brauereiwesen, die dritte wirtschaftliche Säule neben Kohle- und Stahlindustrie. Die Schwerindustrie hat die Stadt längst verlassen, und auch vor den Brauereien hat der Strukturwandel nicht Halt gemacht. 1994 wurde am Standort Rheinische Straße das letzte Fass abgefüllt. Die Brauereigebäude wurden abgeräumt, nur das Kellerhochhaus stand unter Denkmalschutz, ein schrundiger, eher unansehnlicher Baublock, ein Solitär mitten in der Wüstenei der Industriebrache unmittelbar am Rand der Innenstadt, der in tiefe Agonie verfallen war.

Anderthalb Jahrzehnte hatten Politiker und Planer um ein Konzept und die Finanzierung gerungen. Nun ist es gelungen, den achtgeschossigen Koloss zu neuem Leben zu erwecken, ihm eine Funktion als Leuchtturm und Zentrum eines neuen Stadtquartiers zu geben, in dem sich schwerpunktmäßig Kreativwirtschaft ansiedeln soll. Eine bunte Mischung hat in dem Turmbau Platz gefunden, von der man sich die üblichen Synergieeffekte und eine kräftige Ausstrahlung auf das neue Stadtviertel verspricht, das um das „U“ herum in Bau und Planung ist.

Zwei Geschosse werden vom Museum Ostwall eingenommen, das mit seiner Sammlung zeitgenössischer Kunst hierher gezogen ist. Es ist die Hauptattraktion des Hauses: Eine Etage teilen sich die Hochschulen mit ihren Medieninstituten, darüber sind das Zentrum für kulturelle Bildung und der Hartware MedienKunstVerein eingezogen. Das RWE-Forum, ein in tiefes Rot getauchter Saal im Erdgeschoss, ist der Ort für Versammlungen und ein ständiges Kinoprogramm.

Den Architekturwettbewerb für den Umbau der industriellen Hülle hatte das Dortmunder Büro Gerber für sich entschieden. Die Aufgabe war nicht leicht, das in sieben gestapelte Geschosse unterteilte Haus in ein funktionierendes Kulturzentrum zu verwandeln. Gerber Architekten machen das Haus in seiner Gänze erlebbar. Entlang der Ostseite wurde in allen Geschossen die erste Reihe der Deckenfelder herausgenommen und so zwischen der Außenwand und den Etagen eine gebäudehohe Halle gewonnen. Die „Kunstvertikale“ erschließt dem Besucher die Dimensionen und die Präsenz des historischen Bauwerks. Gleichzeitig schafft die Halle mit ihrer Kaskade von Rolltreppen eine optische und physische Verbindung der Ebenen und der Institutionen miteinander – ein schlüssiges Konzept, das die Aktivitäten im Haus von den Depotkellern bis zum Dachcafé miteinander in Beziehung setzt.

Mutig angefügte Neubauteile – Erker durchstoßen die hermetische Backsteinfassade – signalisieren die Öffnung des Kunst- und Kreativzentrums zur Stadt hin. Sie bringen mehr Licht ins Innere, bieten Platz – im Erdgeschoss fungiert der gläserne Vorbau als Windfang, und die VIP-Lounge im vierten Obergeschoss drängt als neugieriger Ausguck aus der Fassade – und lassen schon von außen erkennen, dass ein neuer Geist ins alte Gemäuer eingezogen ist.

Gleich nach dem Durchqueren des blutroten Windfangs eröffnet sich dem Besucher ein Eindruck vom Inneren des gesamten Hauses. Die „Kunstvertikale“ zieht den Blick magisch in die Höhe, Rolltreppen laden zur Erkundung der oberen Geschosse ein. Doch zunächst führt der Weg in die Erdgeschosshalle. Sie ist Foyer, Marktplatz, Orientierungspunkt, aber auch ein erster Kunstort, in dem die Projektionen einer Panoramabilderkette von Adolf Winkelmann auf die Inhalte des Kulturturms einstimmen.

Die Fahrt aus dem Foyer aufwärts ist ein besonderes Architekturerlebnis, geschieht sie doch in einer Sphäre zwischen der historischen Fassade und den von kraftvollen Betonpfeilern und Deckenbalken getragenen, modern ausgebauten Geschossen. Das Entree des Museums Ostwall bildet eine zwei Stockwerke verbindende zweigeschossige Halle im Südteil des Turms. Die Raum-im-RaumKonzeption des Museums wurde von den Berliner Architekten Kuehn Malvezzi maßgeschneidert für die Sammlung entwickelt. Weiße Wände bilden Kabinette in Form einzelner Häuser, zwischen denen Gassen vermitteln; auf der oberen, weniger dicht besetzten Ebene gibt es gar kleine Plätze. Alles ist als Parcours von der Gegenwart zurück zur klassischen Moderne inszeniert. Glanzpunkte der Sammlung sind Expressionisten, Kirchner, das „Selbstbildnis mit Zigarette“ von Max Beckmann, Fluxus, eine eindrucksvoll beklemmende Rauminstallation von Wolf Vostell, Arbeiten von Beuys, Kippenberger und eine Rauminstallation „Frankenstein in the Age of Biotechnology“ von Mark Dion. Die dichte Präsentation erfüllt tapfer ihren Zweck des Allgemeinüberblicks über das letzte Jahrhundert. Für Wechselausstellungen steht das oberste Geschoss zur Verfügung – der geräumige Saal eröffnet mit seinem blendfreiem Nordlicht vielfältige Nutzungsmöglichkeiten. Zudem wurde durch Anhebung des Dachs der stützenfreie Saal zum größten des gesamten Hauses.

Unter dem südlichen Turmdach gibt es einen Raum, den die Protagonisten wegen seiner eindrucksvollen Konstruktion „Kathedrale“ nennen. Für die Rückkühlanlage hinter der Betonpergola einst mit offenen Lamellen ausgestattet, bieten heute die verglasten Fenster einen weiten Blick über die Stadt. Bei schönem Wetter gibt’s den Cappuccino auf der Dachterrasse: Das Aussichtsrestaurant im Kopf des U-Turms verspricht, eine prominente Location mit Kulturveranstaltungen und Clubaktivitäten zu werden.

Ein wenig lässt das Haus nun aber jene Spuren vermissen, die von seiner Geschichte erzählen könnten. Vor allem im Inneren erscheint fast alles neu und perfekt. Doch was bei der Räumung des Gebäudes nicht ausgebaut worden war, schafften Diebe zur Seite. Den Rest besorgten die Bauleute. Sie öffneten alle Wände und legten die immensen Bauschäden an Mauerwerk, Betonstützen und Unterzügen frei, die aufwendig behoben werden mussten. Nach der Reparatur aber verschwand alles Historische hinter sauber verputzten Oberflächen. David Chipperfields Sanierung des Neuen Museums in Berlin diente deshalb nicht als Vorbild. Immerhin sorgen die Deckenkonstruktionen mit ihren kraftvollen Unterzügen für Raumeindrücke, die an die Industrietradition erinnern.

Immerhin: Das Dortmunder Wahrzeichen, jahrelang ein marodes Denkmal der Industriegeschichte, ist mit einem Mal in eine hoffnungsvolle Zukunft katapultiert. Zudem bringt es dem Kulturleben der Stadt einen enormen Schub, mit Wirkung weit über die Region hinaus. Auch wer nicht in Dortmund zu tun hat, hat dort künftig ein attraktives Etappenziel: Zwischenhalt im Dortmunder U, und mit dem nächsten ICE weiter.

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