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Ungewöhnliches Buchprojekt: Freibierparasiten

In "Schicht! Arbeitsreportagen aus der Endzeit" erkunden Schriftsteller die moderne Arbeitswelt. Sie berichten aus Großkonzernen, Online-Sexportalen und Bestattungsinstituten, von Ziegenhirten, Superköchen und moderner Bettelei.

Auch Betteln ist Arbeit. Ein Knochenjob gar. Auch Betteln benötigt Kreativität. Es will gelernt sein und provoziert dann Fragen wie die des Schriftstellers Wilhelm Genazino: „Wer oder was hindert uns eigentlich, Bettlerschulen ins Leben zu rufen? Die Klientel dafür steht, sitzt und liegt überall herum.“ Als ausgewiesen passionierter und professioneller Flaneur weiß Genazino das nur zu gut; und als ein solcher war er prädestiniert, um für die Arbeitsreportagen-Anthologie „Schicht!“ einen Aufsatz „Über das Betteln“ zu verfassen, die Vorgehensweisen von Bettlern zu beobachten und zu beurteilen: „Bettler, die nur ihr Elend ausstellen, rühren die Spenderlaune kaum“.

Es ist ein ungewöhnliches Projekt, das der Literaturwissenschaftler und Suhrkamp-Lektor Johannes Ullmaier da in Angriff genommen und umgesetzt hat: Er fragte Schriftsteller nach Texten über das Arbeitsleben. Diese sollten jedoch nicht ihre eigenen, bekanntermaßen schwierigen und seltsamen Arbeitsbedingungen reflektieren, sondern ausschwärmen und sich umsehen in der Arbeitswelt zu Anfang des neuen Jahrtausends.

Genazino ist die Ausnahme, weil er eben nur vor seine Haustür zu gehen brauchte (wiewohl er die Welt der kleinen und mittleren Angestellten genauso wie die der „Zivilisationsapokalyptiker“ und „Ekel-Referenten“ kennt und beschrieben hat). Viele andere taten sich auf fremdem Terrain um. Bernd Cailloux etwa war bei VW in Wolfsburg, Feridun Zaimoglu in den Produktionsräumen eines Online-Sex-Portals, Harriet Köhler in der Küche eines Feinschmeckerrestaurants. Jörg Schröder und Barbara Kalender ließen sich das Berufsleben eines DDR-Zöllners vor und nach der Wende erzählen, und André Kubiczek besuchte den Arbeitsplatz seines kurz vor der Pensionierung stehenden Vaters, zuletzt Geschäftsführer der Lasa Brandenburg, der Landesagentur für Struktur und Arbeit Brandenburg GmbH. „Schicht!“ zeigt nur zu deutlich, wie vielgestaltig die moderne Arbeitswelt ist, wie sehr sie im Umbau begriffen und wie komplex und zuweilen undurchschaubar sie organisiert ist. Und die Reportagen zeigen, was Arbeit unter den Bedingungen des Kapitalismus und der allgegenwärtigen Konsumwelt für jeden einzelnen bedeutet. Sie ist Notwendigkeit, manchmal auch Obsession, ein Fetisch gar, in jedem Fall zentraler Lebensbestandteil – digitale Boheme hin, Holm Friebes (von Peter Glaser vorgestellte) Zentrale Intelligenzagentur her. Als Bernd Cailloux angesichts der Automatisierung in der Autoindustrie einen VW-Software-Entwickler zweifelnd fragt, wo der Mensch bald überhaupt noch arbeiten könne, weiß dieser nur eine „schlüssige“ Antwort: „in den virtuellen Welten“. Eine genauere Aussage aber will er nicht machen.

Bis dahin bleibt also vieles noch ziemlich analog und diesseits und darüberhinaus durchaus skurril. Feridun Zaimoglu erzählt, welche Tauglichkeitstests männliche Pornodarsteller bestehen müssen: Sie müssen sich unter Anleitung einer Domina gemeinsam mit den Konkurrenten einen runterholen. Jörg Schröder und Barbara Kalender erfahren, wie Hunde auf Drogen oder Menschen abgerichtet werden; Suchtmittelhunde sollten verspielte Tiere sein, Personensuchhunde aggressiv-dominante. Thomas Kapielski offenbart, dass es in seinen Seminaren an der HdK in Braunschweig immer Freibier gab, die „reinen Freibierparasiten“ sich aber trotzdem nicht blicken ließen: „Die brauchen ja Stimmung, und durch die luziden Gespräche da bei uns sind solche Bierquallen gleich wieder abgewackelt. Unsere Symposien waren auf Klarheit und Nüchternheit angelegt, auch im Suff.“

Und der kapitalismuskritische Thomas Raab, der einen Leichenbestatter begleitet hat, weiß, dass selbst das Jenseits, der Tod, noch Arbeit ist und Erzeugnisse schafft: „Auch das große Finale, mein Sterben: ein Umsatz“. Schicht im Schacht – das gibt es in diesem Leben nie. Gerrit Bartels

Johannes Ullmaier (Hg.): Schicht! Arbeitsreportagen aus der Endzeit. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007. 418 S., 12 €. Heute ab 19 Uhr, lange „Schicht!“-Lesenacht im Palais am Festungsgraben mit Bernd Cailloux, Dietmar Dath, Peter Glaser, Harriet Köhler, Thomas Kapielski u. a.

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