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Kultur: Unter Schafen

Berliner Autoren im Wallis: eine Schweizer Szene

Von Gregor Dotzauer

Es gibt Leute wie den Berliner Philosophen Ralph Findeisen, die offenbar ins Wallis reisen müssen, um sich ihre erste Dosis Wirklichkeit zu verabreichen. Sein im Passagen Verlag angekündigter Essay „Post Desaster“ widmet sich dem „Schockerlebnis“, dass „jenseits aller Simulationsstrategien die Welt ,da draußen’ noch da ist“. Müsste, so fragt er sich, „die epochale Post-Befindlichkeit nicht grundsätzlich die Dreidimensionalität der Schweizer Berge verneinen?“ Wir wissen ziemlich genau, wie die oberwallisischen Schwarznasenschafe darauf antworten würden, die Mitte September auch in Leuk auf die Schur warten. Und wir ahnen, was die Esel zu sagen hätten, die weniger als Lasten- denn als Alarmtiere gehalten werden, um Wölfe fernzuhalten. Nur das 2717 Meter hoch aufragende Illhorn würde vornehm schweigen und der Wind sein ewiges Wispern durch die Föhren des Pfynwalds tragen.

Wir wissen aber auch, was einige der besten Schriftsteller Europas dem mittelalterlich geprägten Leuk abgewonnen haben – nämlich eine Arbeitsruhe, die sich weder von den Massiven ringsum beunruhigen lässt noch von den Tausenden von Totenschädeln, die im Beinhaus neben der Pfarrkirche St. Stephan aufbewahrt werden. Seit zehn Jahren schenkt die Stiftung Schloss Leuk jeweils zwei Autoren fünf Jahre lang für zwei Monate Logis plus Handgeld (www.spycher-literaturpreis.ch). Angefangen mit Durs Grünbein haben sich hier schon Sibylle Lewitscharoff, Lavinia Greenlaw, Barbara Honigmann, Gilles Rozier, Marcel Beyer, László Krasznahorkai und Ulrich Peltzer eingefunden. Gerhard Falkner hat in Leuk seine hinreißende Problembärennovelle „Bruno“ und Felicitas Hoppe ihr Märchen „Der beste Platz der Welt“ geschrieben. Thomas Hettche, inzwischen Präsident der Jury, leistet sich eine Hütte hoch über der Stadt auf eigene Kosten.

Das oft leichtfertig dahingesagte Wort vom Grenzgänger, dem der Spycher gilt, hat im Kanton Wallis, wo Deutsch und Französisch, nicht weit entfernt auch Italienisch gesprochen wird, eine ganz natürliche Bedeutung. Schon rein sprachlich trifft es auch auf die in Berlin lebende Französin Marie NDiaye und den Schweizer Russen Michail Schischkin zu, die am Wochenende im Beisein vieler alter Preisträger und Weggefährten geehrt wurden – auch Schischkin übrigens demnächst mit einem DAAD-Stipendium ein Berliner auf Zeit. Falls sich die Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz verschlechtern sollten, findet sich zwischen Leuk und Berlin jedenfalls ein guter Anknüpfungspunkt.

Im Sommer herrscht hier eine trockene Hitze, die dem Wallis den Beinamen eines Texas der Schweiz eingetragen hat. Im Frühherbst, wenn die Gipfel im ersten Schnee erbleichen, sammeln in den Tälern schwere Nebelbänke das letzte Gleißen ein. In Leuk verschlucken sie die Kuppel, die Mario Botta dem Schloss gebaut hat, dann die Weinreben an den Hängen und schließlich die Hand vor den eigenen Augen. Eine Sekunde lang kann man tatsächlich zweifeln, ob da draußen noch eine Welt ist. Doch dann erinnert ein großes Blöken und Meckern daran, dass da etwas ist: In der Nacht haben zwei Schwarznasenschafe Junge geworfen. Gregor Dotzauer

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