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Kultur: Urzeit und Uhrzeit

Der Kalifornier Tim Hawkinson verblüfft im New Yorker Whitney Museum

Die überraschende Entdeckung eines zeitgenössischen Künstlers in einem der großen Museen – sie dürfte heute so selten sein wie ein im Frosch verborgener Prinz. Wem schon zu Lebzeiten eine Retrospektive in einem der berühmten Häuser zuteil wird, der ist im global vernetzten Kulturbetrieb längst ein teurer Name, selber berühmt oder zumindest berüchtigt. Darum ist die Werkschau des 1960 in San Francisco geborenen Malers, Skulpturisten und Installateurs Tim Hawkinson, die den gesamten 4. Stock des New Yorker Whitney Museums füllt, ein Ausnahmefall. Denn für europäische Besucher ist dieser 45-jährige Kalifornier kaum ein Begriff. Gleich in der Eingangshalle fängt der Gebilde-Erfinder die Aufmerksamkeit mit seiner gut zehn Meter ausladenden raumhohen Installation „Pentecost“. Lebensgroße Figuren, nackte Urmenschen oder Zukunftsmonster, wachsen wie Eingeborene einer vergessenen oder noch nicht entdeckten Population aus tubenartigen Stämmen und erzeugen sonderbare, xylophonähnliche Töne. Das riesenhafte und zugleich schwebend leicht wirkende Ensemble scheint aus Holz geschnitzt, besteht aber aus hellbraunem Kunststoff und wird in seinen Klängen und Körperwendungen durch Computer animiert.

Dieser Hawkinson ist ein fabelhafter, fanatischer Bastler, Materialmixer, Bilder- und Formencollageur. Merkwürdig nur, dass er außerhalb der sonst immer so schnell die Trends setzenden USA, wo er „Mr. Wizzard“, der Zauberer, genannt wird, ein nahezu Unbekannter geblieben ist. In Berlin war er 2004 einmal in der Akira Ikeda Gallery zu sehen, davor auch in Tokio oder Mailand. Angesichts der New Yorker Retrospektive wälzt man noch einmal die letzten dicken „Documenta“-Kataloge. Doch tatsächlich hatte Hawkinson bei der Biennale 1999 in Venedig seinen bislang einzigen Europa-Auftritt auf großer Bühne.

Manchmal adaptiert der in Los Angeles lebende Hawkinson durchaus Idole der alten europäischen Kunst. So hat ihn Donatellos 1453 geschaffene Holzskulptur der Maria Magdalena aus dem Dommuseum von Florenz inspiriert: 550 Jahre später lässt der Amerikaner eine schrundige schwarze Gummimasse als „Magdalene“ von einem Haken baumeln; was auf den ersten Blick an die Hälfte eines geplatzten, ausgefransten Lkw-Reifens erinnert, gleicht indes der Silhouette der Donatello-Figur mit Maria Magdalenas zerschlissenem Büßergewand.

Das Eindringen in die äußere Form und als Gegenstück das Ausstellen, Ausstülpen der Haut oder der inneren Organe faszinieren Hawkinson immer wieder. Sich selbst fotografiert er vom Scheitel bis zum Anus und montiert, kombiniert die Draufsicht auf den eigenen Kopf mit der Nahaufnahme der Rückenhaut – alles, was ein Mensch von sich selbst ohne technische Hilfe nie sehen kann. Dieses ausgeschnittene, dreidimensional ausgebaute Hautbild, betitelt „Blindspot“, ähnelt einer rosigen Pflanze. Und das Biologisch-Pflanzliche, das Hawkinson in der feinen Maserung der Haut aufnimmt oder in wuchernden, surrealen Organismen ausspielt, es dient ihm auch zum Zeit-Bild.

Die Scheibe eines Baumes mit den Jahresringen korrespondiert mit den Rillen von Schallplatten oder zeigerlosen Uhren. Aus Warhols Campbell-Suppendose wird bei Hawkinson eine leicht ramponierte Coladose mit eingebautem Motor, der den Blechnippel der Dosenöffnung im Uhrzeigersinn bewegt. Mit der Zeit der Künste und dem Alter spielt der mittelalte Kalifornier ohnehin gerne. Zunächst wirkt ein Skelett mit angehängten Infusionsflaschen und Schläuchen nur wie ein kabarettistischer Witz über die lebensverlängernde Medizin. Aber durch eine künstliche Halsröhre spricht, stöhnt, röchelt das Knochenwesen so angestrengt und für den Betrachter anstrengend, dass die „Penitent“ genannte Installation plötzlich alle Harmlosigkeit verliert.

Urzeit und Uhrzeit werden am eindrucksvollsten verbunden und in die Zukunft verlängert, wenn Hawkinson wiederum ein Gebilde aus beweglichen Scheiben baut. Es sind 24 Drehstücke aus Holz, Stahl und Plastik, die mit wachsendem Durchmesser aneinander gereiht einer wunderlich skulpturierten Riesenechse gleichen. Die kleinste Scheibe, quasi die Schwanzspitze, rotiert rasend schnell, die 24., größte Scheibe am langsamsten: Wir müssten hundert Jahre warten, bis sie ihre Drehung vollendet hat. Und weil bis dahin wohl alle Besucher der Ausstellung tot sein werden, hat das Spiel kein Ende – und das mittelalterliche „Vanitas“-Motiv kehrt in modernem Gewand zurück.

Hawkinson setzt so den Scherz neben den Schmerz und paart Alltagsdinge mit den letzten Dingen. Weil er über alle Stile und Techniken verfügt, vom Ready- Made über die Pop Art bis zur neueren Raum-Zeitkunst eines Jason Rhoades oder Tom Sachs, ist sein Talent allerdings auch gefährdet. Er ist ein Spieler, im heutigen Kunstbetrieb ein Zirkusartist. Aber auf sehr hohem Seil.

Whitney Museum in New York bis 29. Mai. Ab 26. Juni bis 5. September im Los Angeles County Museum of Art. Katalog 45 Dollar.

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