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Kultur: Vater und Söhne

Auf dem 63. Filmfestival von Cannes werden heute die Palmen vergeben

Was war zuerst da, das Original oder die Kopie? Blöde Frage, aber seit Abbas Kiarostamis Toskana-Film „Copie Conforme“ lässt sie sich nicht mehr so leicht beantworten, hat der iranische Regiemeister doch eine raffinierte Versuchsanordnung über Dichtung und Wahrheit nach Cannes mitgebracht. Ein britischer Autor (William Shimell) und eine französische Antiquitätenhändlerin (Juliette Binoche) begegnen einander in Arezzo, bei einem Ausflug diskutieren sie sein Buch über die Gleichwertigkeit von Original und Kopie, im pittoresken Städtchen Lucignano, in dem es von Hochzeitspaaren nur so wimmelt, hält man sie für ein Ehepaar. Sie spielen das Spiel weiter, bis die Imitation eine eigentümliche Authentizität gewinnt. Sind die beiden womöglich tatsächlich verheiratet?

Was war zuerst da, die Krise oder ihr Nachbeben im Kino? Am heutigen Sonntag ist Preisverleihung in Cannes. Während die letzten Ausgaben der BranchenDailys dem schwierigen Markt (15 Prozent weniger Ware als 2009) tapfer einen baldigen Aufwärtstrend prophezeiten, saßen die Journalisten aus aller Welt beim Mittagsempfang des Bürgermeisters an Biertischen auf dem Burgplatz hoch über dem Hafen und palaverten bei Fisch, Möhren und Kartoffeln über die Frage, warum das Festival diesmal doch recht mau ausgefallen ist.

Wer gewinnt die Palme? Mike Leighs Melokomödie „Another Year“ über die Kunst, beim Älterwerden nicht die Laune zu verlieren? „Biutiful“, Alejandro González Inárritus wilde Elegie auf das Leben im Angesicht des Todes? Die freundlichen Mönche in Xavier Beauvois’ „Des hommes et des dieux“? Das ukrainische Endzeitdrama „Mein Glück“ oder doch „Poetry“, der feine, stille Koreaner? Kein leichter Job für die Jury und ihren Vorsitzenden Tim Burton, unter den 19 PalmenAnwärtern einen Sieger zu küren.

Tarantino, Haneke, Lars von Trier, das war 2009. Nichts dergleichen in diesem Jahr. Was der Berlinale als Festival angekreidet wurde, schlägt in Cannes auf die Filme zurück: Auf allen Kontinenten wird weniger produziert, da hat selbst das wichtigste Filmfest der Welt nicht genug Auswahl. Das mag eine Erklärung dafür sein, dass zum Abschluss des Wettbewerbs Nikita Michalkows MonumentalKriegsfilm „Die Sonne, die uns täuscht 2“ programmiert wurde. Eine Entschuldigung ist es nicht.

Zahlreiche bedeutende Regiekollegen Michalkows hatten im April in einem Offenen Brief gegen dessen totalitären Machtstil protestiert; in Cannes schämten sich russische Kollegen dafür, dass der blutige Streifen des Putin-Freunds und mächtigsten Filmfunktionärs ihres Landes auch noch die höheren Weihen der Wettbewerbsteilnahme erhält.

Einen Eklat hatte man eigentlich schon für Freitag befürchtet. Die Folge: bewaffnete Gendarmen, Leibesvisitationen, verschärfte Einlasskontrollen. Der von Ultrarechten angedrohte Protest gegen Rachid Boucharebs Historien-Epos „Hors la loi“ über die Geschichte der algerischen Befreiungsfront FLN blieb jedoch aus. Nur eine kleine Gruppe patriotischer Demonstranten mit Fahnen wurde gesichtet, und so besonnen wie die Worte des Regisseurs auf der Pressekonferenz, so betulich ist auch sein Film. Drei algerische Brüder werden von den Verbrechen der Kolonialmacht Frankreich radikalisiert, am Ende stirbt man den Terroristen-Märtyrertod – „Der Baader Meinhof Komplex“ in der menschelnden Variante. Konservative Franzosen ärgert es offenbar schon, wenn das AlgerienTrauma einmal aus algerischer Perspektive erhellt wird.

Und die Kultregisseure des Autorenkinos? Sie zeigten in Cannes Imitate älterer, besserer Werke, seien es Godard, Woody Allen oder der verrückte Thailänder Apichatpong Weerasethakul. Der Filmemacher als sein eigener Epigone: Weerasethakul entführt den Zuschauer in „Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives“ erneut in den Dschungel, in dem Totengeister und Affengötter spuken und ein sprechender Fisch Sex mit einer Prinzessin hat. Kino als animistische Kunst: Aber die Magie ist nur ein Abglanz der hypnotischen Kraft von „Tropical Malady“, Weerasethakuls Cannes-Überraschung von 2004.

Was kommt zuerst, die Ästhetik oder die Ethik? Ken Loach sorgte mit „Route Irish“ gegen Ende noch für einen kleinen Festivalhöhepunkt. Die Unversöhnlichkeit, mit der Loach einen nach Liverpool zurückgekehrten Söldner zum Rächer an Irak-Geschäftemachern und zum Opfer des eigenen Bagdad-Traumas werden lässt, will einem nicht mehr aus dem Kopf. Aber man merkt auch, dass der dem Humanismus verpflichtete Brite unbedingt ein politisches Statement abgeben will, ein bitteres, wütendes Statement. Darunter leidet die Story. Wenigstens hat sie einen starken, tragischen Protagonisten. Doug Limans Irakfilm „Fair Game“ dagegen kommt über die thesenhafte Beschwörung von politischer Moral und Familienwerten nicht hinaus. Trotz der wahren Geschichte der CIA-Agentin Valerie Plame, die bei ihrem Kampf gegen die Lüge von Saddams Massenvernichtungswaffen von der Regierung fallen gelassen wurde. Und trotz der Starbesetzung mit Naomi Watts und Sean Penn.

Was war zuerst da, der Film oder das Leben? Die Krise ist in den Filmen, die trotzdem entstehen, vielfach präsent. Womit jetzt nicht die Finanzwelt als Schauplatz gemeint ist, sondern die Vielzahl von Geschichten in Cannes, in denen Eltern an ihren Kindern schuldig werden. Weil sie ihnen eine Welt hinterlassen, die eine Zumutung ist. Vor den Vätern sterben die Söhne. Natürlich verabreden sich Regisseure nicht quer über die Kontinente zu Stoffen oder Trends. Umso verblüffender, wie in aktuellen Filmen aus Europa und den USA, aus China oder Afrika die Elterngeneration sich schmerzhaft ihres Versagens bewusst wird, wie vor allem die Väter verzweifelt zu reparieren versuchen, was sich eben noch reparieren lässt – in Zeiten der prekären Arbeitsverhältnisse, des Terrors, der globalen Migration, der kaputten Familien.

Schon der erste Wettbewerbsfilm, „Tournée“ aus Frankreich, hatte das Thema angespielt. Regisseur Mathieu Amalric spielt darin einen unfähigen Showproduzenten, der vergeblich versucht, der Verantwortung für seine Tingeltangel-Girls und für seine beiden halbwüchsigen Söhne gerecht zu werden.

An der sozialpsychologischen Variante versucht sich das Bürgerkriegsdrama „A Screaming Man“ aus dem Tschad. Ein degradierter, gedemütigter Hotel-Bademeister lässt den eigenen Sohn von der Armee rekrutieren – was dessen Todesurteil bedeutet. Und in „Chongqing Blues“ aus China rekonstruiert ein Kapitän, der lange auf See war, die Umstände, unter denen sein Sohn als Geiselnehmer im Supermarkt erschossen wurde. Das zweifelhafte Fazit: Ausgerechnet die Jugend droht Chinas rasanter Modernisierung zum Opfer zu fallen.

Die Abwesenheit der Väter bedingt die Einsamkeit der Söhne, sie gebiert verlorene Seelen, Gewalttäter, Monster. Das geschieht auch in „Tender Son – The Frankenstein Project“ aus Ungarn. Die stärkste Vaterfigur in Cannes verkörpert jedoch Javier Bardem in Inárritus Barcelona-Film „Biutiful“ (Tsp. vom 20. Mai). Der sterbenskranke Held, der sich für seine Kinder und andere hilflose Existenzen aufopfert, der überforderte, sich abrackernde Vater: Inárritu überhöht diesen Typus in religiöser Manier zum Schmerzensmann, der sich das Leid der Welt aufbürdet, das er selbst mitverursacht hat.

Auf der diesjährigen Berlinale hatten zahlreiche Filme das Augenmerk auf die vernachlässigten Kinder gerichtet. Die Filme in Cannes zeigen das gleiche Szenario, nur aus anderer Perspektive. Die späte Einsicht, das schlechte Gewissen, der Gesinnungswandel vor allem der Männer: Midlife-Krise der Regisseure (kein einziger Wettbewerbsbeitrag stammte von einer Frau), öffentliche Selbstkritik, Erkenntnisprozess – oder Augenwischerei? In „Wall Street 2“ verabschiedet sich Michael Douglas als skrupelloser Broker von der eigenen Gier, weil er Großvater wird. In der Realität sind solche Abschiede bekanntlich selten.

Ein schlechtes Gewissen ist kein guter Ratgeber. Vielleicht ist das ja auch ein Grund für das Schwächeln der Filme in Cannes 2010.

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