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Ibsen-Trips. Das Künstlerduo Vegard Vinge und Ida Müller beschwört in der neuen Produktion Volksbühnen-Gefühle.

© Nationaltheater Reinickendorf

Vegard Ving in Reinickendorf: Eichborndamm extrem

Zwölf Stunden Verausgabung: „Nationaltheater Reinickendorf“ heißt der jüngste Streich des Theaterberserkers Vegard Vinge.

Sechs Jahre ist es her, dass Vegard Vinge und Ida Müller im Prater der Berliner Volksbühne mit ihrem Ibsen-Marathon „John Gabriel Borkman“ aufschlugen. Eine echte Theaterrevolution: Mit den maskierten Schauspielern, die sich wie Avatare durch ein Gesamtkunstwerk irgendwo zwischen Geisterbahn, Computerspiel, Comic und angeschrägter naiver Malerei bewegen, etablierte das norwegisch-deutsche Künstlerduo nicht nur eine völlig neue Bühnenästhetik. Sondern Vinge/Müller, die sich bis dato ziemlich exklusiv auf Henrik Ibsen gestürzt und ihn gleichsam als inszenatorischen Lieblingsfeind wirklich in originellster Weise produktiv gemacht haben, setzten auch beim Aushebeln der sogenannten vierten Wand neue Maßstäbe. Beim „Borkman“ bewarfen Schauspieler und Zuschauer einander fröhlich mit Requisiten. Und auch ansonsten brach speziell Vinge – die Künstler wirken in ihren Arbeiten stets selbst als Höchstleistungsperformer mit – die letzten Tabus der theatralen Als-Verabredung und kackte, wenn er entsprechend drauf war, schon mal in den Zuschauerraum.

Seine gesamte Theatergeneration stehe unter Vinges und Müllers Einfluss, sagte Ersan Mondtag, der seinerzeit bei „Borkman“ assistierte und inzwischen selbst ein gefeierter Regisseur ist, kürzlich hier im Interview. Es wurde also allerhöchste Zeit, dass man das Duo, das mit seinen bis zu zwölf Stunden dauernden Extremperformances den kompletten Betrieb an seine Grenzen bringt, endlich mal wieder zu sehen kriegt in Berlin.

Dank der Berliner Festspiele ist es mit den Entzugserscheinungen, unter denen Teile der Theaterszene seit der letzten Vinge-Müller-Produktion „12-Spartenhaus“ im Prater 2013 tatsächlich extrem gelitten haben sollen, nun vorbei: Im Rahmen des Programmschwerpunkts „Immersion“ hat Intendant Thomas Oberender die Künstler eingeladen, in Reinickendorf, am Eichborndamm, ein ganzes kleines „Nationaltheater“ zu errichten. Mit Foyer, Zuschauerraum, Bar und Bühne im unverwechselbaren Ida-Müller-Style: ein Kunstwerk für sich. Das Repertoire wurde für das „Nationaltheater Reinickendorf“ standesgemäß erweitert: Neben Ibsen arbeitet man sich jetzt zum Beispiel auch an Shakespeare ab.

Erstmal ist 90 Minuten im Foyer angesagt, dann erst geht es los

Allerdings: Selbst diese Lektion muss man sich als Zuschauer erst einmal verdienen. Am Premierenabend steht man zunächst 90 Minuten im Foyer, bis überhaupt etwas Dramatisches passiert. Das Unterlaufen von Publikumserwartungen ist die eherne Regel Nummer eins des Vinge-Müller-Theaters.

Zwei gediegene Theaterzombies – alte Bekannte aus dem „12-Spartenhaus“ – vertreiben sich die Zeit, indem sie von einer Art Brücke herab unter der Androhung, 22 Flaschen in petto zu haben, Sekt auf die Zuschauerhäupter spritzen und ihre Gäste außerdem nötigen, aus einer Lostrommel nummerierte Tischtennisbälle zu ziehen: vermeintliche Sitznummern, an die sich später freilich niemand hält. Verglichen mit den Zuschauergeduldsexerzitien im Prater, wo es einem passieren konnte, dass erst mal stundenlang einfach nur gezählt wird, von eins bis (gefühlt) 40 000, beginnt das „Nationaltheater Reinickendorf“ also mit einer vergleichsweise niedrigschwelligen Herausforderung. Was sich allerdings jeden Abend ändern kann: Aus einem Pool möglicher Szenen, deren Umfang nur die Macher selbst kennen, wird jede Vorstellung in Gehalt und Struktur neu komponiert.

Am Premierenabend geht es auf der Bühne mit der „Panini-Kathedrale“ los, einer ausgedehnten Kamerafahrt durch einen Nebenraum, in dem Ida Müller zig Panini-Fußball-Bilder aus den 70er- und 80er Jahren nachgezeichnet hat. Vinge selbst ruft durch einen Stimmenverzerrer dazu den Satz: „Ich habe einmal an das deutsche Theater geglaubt, nun glaube ich nur noch an Fußball.“ Viel, viel später gibt es noch mal ein Panini-Bildchen-Kamerafahrtsäquivalent. Diesmal sind allerdings keine WM-Mannschaften zu sehen, sondern die Nomenklatura der Nazi-Diktatur.

Fremdtexte sampeln schafft großhirnaktivierende Kurzschlüsse

Tatsächlich besteht eine der größten Qualitäten des Vinge-Müller-Theaters darin, die großhirnaktivierenden Kurzschlüsse, die Frank Castorf an der Volksbühne durchs Sampeln und Anlagern überraschender Fremdtexte ans Hauptsujet produziert hat, quasi auf der Bild- und Symbolebene herzustellen. Als Referenzgröße der ersten Stunden dient dabei Ibsens „Baumeister Solness“, jenes Vertigo-Drama eines alternden Architekten, der Angst vor der hereindrängenden Jugend und zudem einen ausgewachsenen Schuldkomplex hat: Ein ideales Vatersturz-, Karriere- und Generationswechsel-Drama also, in dessen Protagonisten nicht nur die Literaturwissenschaft Züge von Nietzsches „Herrenmenschen“ erkennt.

Und fürs „Nationaltheater Reinickendorf“ natürlich eine absolut plausible Themenwahl: Mit „Baumeister Solness“ hatte vor wenigen Tagen auch die Castorf-Volksbühne ihre 25-jährige Ära beendet, wobei der Hausherr das Drama mit stilsicherer Ironie als Selbstporträt inszeniert hatte. Bei Vinge ist die Volksbühne – als unverkennbare Lehr- und Inspirationsquelle, mithin sozusagen als Vaterfigur (nebst aller dazugehörigen ödipalen Ambivalenzen) – an diesem Abend dauerpräsent. Und zwar überraschend gegenständlich: Da trägt zum Beispiel ein Bühnenakteur eine Jacke mit dem Bert-Neumann-Logo: „Don’t look back“. Wobei „Don’t“, anders als im Original, rot durchgestrichen ist.

Höchst komplexe Bilder rühren an kollektive Traumata

Stark sind Vinge-Müllers Ibsen-Trips immer dort, wo sie psychologische Dramen gleichsam in Horrortrips der frei laufenden Symptome übersetzen und dabei in gleichermaßen originellen wie höchst komplexen Bildern an (kollektive) Traumata rühren. Das passiert auch hier mehrfach in den ersten vier, fünf Stunden. Später verlegt sich Vinge zunehmend auf ein anderes Schuld- und Elternkomplexdrama – Shakespeares „Hamlet“ – als relativ eindimensionales Singspiel und mischt auch noch ein bisschen Neurosenmaterial der Ibsenschen Generalstochter „Hedda Gabler“ unter. Dazu passt, dass durch die vierte Wand diesmal auch lediglich ein bisschen Torte flog. Früh um sechs, nach zwölf Stunden, bleibt das Gefühl, dass sich dieses Theater früher im Prater mehr verausgabt hat. Aber vielleicht wurde die Energie ja einfach nur zurückgehalten, um sie in den nächsten Vorstellungen umso brachialer über die Rampe zu schleudern.

Noch bis 30. Juli, weitere Infos unter: www.berlinerfestspiele.de

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