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Kultur: Verbotene Zimmer

Die Berliner Galerie Sandmann zeigt seit 20 Jahren russische Avantgarde

Es ist, was es ist. „Das Bild. Braune Tapete“. Eine von drei, vier sozialistischen Standardtapeten, die Michail Chernishov 1961 auf Streifzügen durch leer stehende Moskauer Wohnungen fand und mit einem Goldrahmen versah (Preis auf Anfrage). Die Geburtsstunde der Null- Kunst. Da war der Autodidakt gerade 16 Jahre alt, schuf die ersten Ready mades der Sowjetunion und machte aus der Not inoffizieller Künstler eine Tugend, indem er die Wohnungsausstellung zum Konzept erhob. Was in der 1956 von Chruschtschow eingeleiteten Tauwetter-Periode geduldet wurde, galt gegen Ende der sechziger Jahre dann als Angriff auf die Konventionen und brachte den heute in New York lebenden Chernishov während der Breschnew-Ära in die Psychiatrie.

„Man versteht diese Kunst nur, wenn man den Hintergrund ihrer Entstehung kennt“, sagt Marina Sandmann. „Tauwetter und die Zeit danach“ heißt deshalb der Ausstellungszyklus, mit dem die Berliner Galerie Sandmann ihr 20-jähriges Jubiläum begeht.

Kunst der Non-Konformisten hat die gebürtige Russin, die seit 1986 in Deutschland lebt, bereits in Moskau gesammelt. Beflügelt durch die Perestroika, machte die studierte Germanistin und promovierte Historikerin ihre Leidenschaft für die Kunst zum Beruf. „Eigentlich bin ich dazu gekommen wie die Jungfrau zum Kind“, meint Sandmann. „Als ich 1988 in Moskau die erste frei kuratierte Ausstellung der Sowjetunion gesehen habe, war ich begeistert. Es war so aufregend! Wirklich ein positiver Schock. Ich wollte ’Labyrinth’ unbedingt in Deutschland zeigen, aber hier fehlte die Basis. Bekannt waren ja lediglich die Moskauer Konzeptualisten. Dabei gab es radikalere Künstler.“

Da die Resonanz hiesiger Kunstvereine und Museen gering war, organisierte Marina Sandmann die Ausstellung auf einem Schloss nahe Hamburg und erzielte mit 12 000 Besuchern einen beachtlichen Publikumserfolg. Seither leistet sie gemeinsam mit ihrem Mann Fritz, zunächst von Hamburg aus und seit 2001 mit der Galerie in Berlin, Aufbauarbeit für die russische „Zweite Avantgarde“.

Was der Begriff an stilistischer Bandbreite subsumiert, präsentiert nun ihr erster Teil einer Ausstellungsreihe mit der Moskauer Kunstszene von 1956 bis 1989. Die insgesamt 17 Positionen beginnen mit Lydia Masterkova und Vladimir Nemukhin aus dem Lianosovo-Kreis. Ende der fünfziger Jahre versammelten sich Künstler, Literaten, Studenten und Intellektuelle um den Maler Oskar Rabin, dessen Barackenzimmer im Moskauer Vorort Lianosovo zum Wallfahrtsort wurde. Vladimir Nemukhin, eine der zentralen Figuren des Non-Konformismus, leitet mit einer Collage (25 000 Euro) zwischen abstrakter Expressivität und elementarer Symbolhaftigkeit zu den „Metaphysikern“ über. Bilder von Edouard Steinberg stehen exemplarisch für deren geistige Tiefe und eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der ersten russischen Avantgarde (30 000 Euro).

Zwar sind Soz-Art mit Komar & Melamid und die Moskauer Konzeptualisten mit Ilya Kabakov ebenfalls prominent vertreten. Für den Charme des Galerieprogramms sorgen allerdings die weniger bekannten und bisweilen unterschätzten Künstler. Wie Eduard Gorokhovsky, in dessen 13-teiligem Siebdruck „Rotes Kreuz“ (15 000 Euro) sich ein vorrevolutionäres Porträt im seriellen Spiel zu Linien auflöst, die sich zum Kreuz verbinden. Zwischen Soz- und Pop-Art vereint Sergej Volokhov die russische ikonografische Tradition mit einer dezidiert kritischen Haltung. In dem zwischen 1976 und 1980 entstandenen „Russland“ (Preis auf Anfrage) stehen 24 Tafeln um ein zentrales Diptychon: Hochschwanger und schmerzgekrümmt windet sich Mütterchen Russland auf einer Landkarte, in die der Verfassungstext eingeschrieben ist. „Russische Sammler sind immer noch vorsichtig mit solchen Künstlern“, sagt Marina Sandmann. Weit nach Glasnost und Perestroika ist Volokhovs Bilderkosmos tatsächlich 30 Jahre später wieder von brisanter Aktualität.

Galerie Sandmann, Linienstraße 139-140; Teil I bis 28. März. Di-Fr 14-19 Uhr, Sa 12-18 Uhr.

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