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Verbrecher JAGD: Die Einsamkeit kurz vor Sibirien

Berlin war gestern. Stifter, Mitte vierzig und hoffnungsloser Langzeitstudent, kündigt seine Wohnung in Kreuzberg und wird Briefträger in Germerow, einem Tausend-Seelen-Nest im tiefsten Brandenburg.

Berlin war gestern. Stifter, Mitte vierzig und hoffnungsloser Langzeitstudent, kündigt seine Wohnung in Kreuzberg und wird Briefträger in Germerow, einem Tausend-Seelen-Nest im tiefsten Brandenburg. Er schätzt den Alltag im Osten, „ereignislos, ohne Anregung“ und beruhigend stereotyp. Die Jugendlichen, die den Tag an der mit Wellasbest gedeckten Bushaltestelle verbringen, heißen Mike, Samantha, Kevin und Michelle, „die ganze Palette der Klischeenamen“, während ihre Eltern ab „morgens um sechs in den Fernsehsesseln dämmern“. Es ist Stifters erster Sommer in Germerow, trocken und heiß, und eines Morgens entdeckt er im Wald eine Leiche. Damit rückt der „Seelenfrieden“, nach dem er sich so sehr sehnt, erst einmal in weite Ferne.

„Polizeiruf 110“ und „Tatort“ haben das ja schon oft vorgeführt. Brandenburg, eigentlich der gesamte nördliche Teil der ostdeutschen Provinz, das scheint die ideale Kulisse für eine Kriminalgeschichte zu sein. In der von der Wende verwüsteten Landschaft blühen Sozialdrama, rechte Gewalt – und Menschenhandel. An dieser Stelle setzt auch Tanja Webers Debüt „Sommersaat“ (Aufbau Verlag, 350 Seiten, 16,99 €) ein: Es geht um Schleuser und Zuhälter, die minderjährige Prostituierte über die polnische Grenze schaffen. Das Schöne ist allerdings, dass der stadtmüde Stifter – ein klassischer Ermittler wider Willen – sich weniger für die offensichtlichen gesellschaftlichen Probleme der strukturschwachen Region interessiert, sondern für die malerische „Einsamkeit des Ostens“.

So verliert er sich angesichts des brandenburgischen Restidylls vor allem in verträumten Naturbeobachtungen. Wenn er im Mondschein nicht weit vom Fundort der Leiche das „kühle unbewegte Wasser“ eines Sees betrachtet oder die ersten Regentropfen in den staubtrockenen märkischen Sand fallen, dann macht der melancholische Briefträger seinem altehrwürdigen Namensvetter alle Ehre: Adalbert Stifter, der in den zarten Regungen der Natur einst das „sanfte Gesetz“ der Realität erkennen wollte. So erhaben war ein Tatort schon lange nicht mehr.

Auch André Meiers erster Kriminalroman „Letzte Losung“ (Rowohlt Berlin, 320 Seiten, 19,95 €) ist von Naturpoesie durchsetzt. Bereits im November fällt in Vorpommern der erste Schnee. „Im Bruch färbten sich die Wiesen weiß, und die eben noch von welkem Grün gerahmte Randow, die sich durch den feuchten, schweren Boden des Urstromtals schlängelte, wurde zu einem schmalen, dunklen Strich auf hellem Grund.“ Und auch hier wird aus der Perspektive eines Berlinflüchtigen erzählt: Der ehemalige Journalist Kantor, ein „Säufer und Versager“, hat sich nach Scheidung und beruflichem Niedergang nach Vorpommern zurückgezogen. Hier, „kurz vor Sibirien“, lebt er in einem von der Großmutter geerbten Häuschen. Sein Geld verdient er nicht ganz legal als Fahrer eines polnischen Zuhälters.

Dann werden in den verschneiten Wäldern rund um das Dorf Tantow gleich mehrere Leichen gefunden, und die Spuren führen immer weiter zurück in die Vergangenheit: Der Mann, dem in Tantow heute das meiste Land gehört, war zu Ostzeiten mit der LPG verbandelt, von hier zieht sich eine feine, blutrote Linie zu den Enteignungen nach 1945 und dann weiter zurück in die dreißiger Jahre, auf die „Erbbauernhöfe“ der Nazis und in die Abgründe einer preußischen Adelsfamilie. In Tantow ist niemand überrascht, als bekannt wird, dass die Kugeln in den Schädeln der Toten „aus alten Wehrmachtsbeständen“ stammen: Bei André Meier, einem Ex-Berliner, der lustigerweise bereits zwei Bücher über die Freuden des Landlebens veröffentlich hat, wird die ostdeutsche Provinz zum Endlager der deutschen Geschichte.

„Letzte Losung“ ist eine Geistergeschichte: das Gros der Protagonisten den großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts zum Opfer gefallen. Das passt schon. Wenn man den Statistiken glaubt, wird es in den Landstrichen entlang der polnischen Grenze in Kürze ohnehin nur noch Gespenster geben, ein paar Wölfe dazu, scheues Rotwild und dichte Mischwälder. Und vielleicht einen Briefträger namens Stifter, der niemandem mehr die Post zustellen kann.

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