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Kultur: Verführung in Öl

Tizian, Shakespeare und Tanz – London feiert seine Weltoffenheit mit einem Kulturfest zu den olympischen Spielen.

Während die Reise der olympischen Fackel durch die britischen Inseln ihrem Höhepunkt zustrebt, findet der landesweite Triumphzug von Tizians Diana-Mythologien in einer Ausstellung der National Gallery in London seinen grandiosen Abschluss. Vor zwei Jahren wurde sein Gemälde „Diana und Aktäon“ für 50 Millionen Pfund gekauft und in den Museen von Nottingham und Norwich, Cardiff und Liverpool ähnlich stolz vorgeführt wie nun das olympische Freudenfeuer. Im April folgte für 45 Millionen die Erwerbung von „Diana und Callisto“, wieder gemeinsam mit der schottischen Nationalgalerie – eine erstaunliche, kollektive Anstrengung in Zeiten größter Sparsamkeit. Nun wird der Besitz in der National Gallery stolz dem Volk präsentiert. Selbstverständlich bei freiem Eintritt, so dass wie stets das Publikum – anders als in der Berliner Gemäldegalerie – strömt.

Auf Augenhöhe mit Aktäon, der den Vorhang zu Dianas Grottenbad beiseiteschiebt, starrt der Betrachter auf die Nacktheit der Göttin, die man nie hätte sehen dürfen. Aber nur Aktäon kostet der Anblick das Leben. Rechts hängt das dritte Bild der Gruppe, in dem sich Aktäon unter Dianas strafendem Blick in einen Hirsch verwandelt und von den eigenen Hunden zerrissen wird – bzw. sich in braune Farbe auflöst. Dieses unfertige und gerade deshalb meisterhafte Gemälde wurde 1972 erworben, auch damals nach öffentlichem Spendenaufruf.

Zum ersten Mal seit dem 18. Jahrhundert sind die drei Bilder aus Tizians siebenteiliger „Poesien“-Serie nun zusammen zu sehen, die der Maler für Phillip II. von Spanien nach den Metamorphosen des Ovid schuf. Es sind Ikonen der Ölmalerei, in denen alles Weitere angelegt ist: das Erzählen von Geschichten, die täuschende Illusion, die Verführungskraft der Farbe, das Spiel des Lichts. Hinzu kommt die reine Freude an der mit Daumen und Zeigefinger vom Künstler auf der Leinwand zerdrückten Farbe.

Die Ausstellung stellt keine kunsthistorische Würdigung dar. Sie feiert allein die Imagination Tizians und seines Anregers Ovid mit einer alle Sparten vereinenden Schau. Außer Tizian sind drei zeitgenössische Künstler, drei Komponisten und das Royal Ballet dabei. Die besten Poeten des Landes schrieben Gedichte über die Bilder, es gibt Dichterlesungen, Fernsehübertragungen des Ballets auf Leinwänden, auch online ist vieles abrufbar. Ein Fest für Tizian.

Chris Ofili schmückt einen Saal mit großen malerischen „Metamorphosen“ von Liebespaaren. Während seine Riesenformate im Vergleich zu Tizian flach und bemüht bleiben, lieferte er für eines der drei Tizian-Ballette, die in der vergangenen Woche Premiere hatten, ein psychedelisch intensives Bühnenbild des Götterhains. Mark Wallinger engagierte Frauen namens Diana und baute ihnen in einer Galerie ein dampfendes Badezimmer. In Zwei-Stunden-Schichten baden und pflegen sie sich darin. Die Besucher dürfen, hier gefahrlos, den Aktäon spielen und durch Gucklöcher die Badeszene verfolgen. Conrad Shawcross wiederum hat Diana in einen summenden Roboter verwandelt, der in grazilen Bewegungen, mit unerbittlicher Präzision und ohne jede Scham den schon in ein Geweih verwandelten Aktäon inspiziert, betört, verspottet, vernichtet. Das dazugehörige Ballett heißt „Machina“. Der auf der Opernbühne noch größere Roboter steht zu den Tänzern in einer ähnlichen Beziehung wie die Götter zu den Sterblichen: übermächtig, lüstern, eifersüchtig, unberechenbar, ein höhnischer Widerhall.

Die Metamorphosen-Ausstellung zeigt, wie stolz die Engländer auf ihre Nationalgalerie sind und welch zentrale Rolle diese bei der nationalen Selbstdarstellung spielt. Sie ist auch ein Beispiel dafür, wie man sich die Kultur der Welt in ungenierter Begeisterung zu eigen macht. Kultur als ein Prozess des Gebens und Nehmens. Tizian ist jetzt Londoner, ebenso die Musiker aus allen olympischen Ländern, die am Wochenende beim großen vorolympischen Musikfest in der Hauptstadt musizierten – als Teil vom „London 2012 Kulturfest“, das durch die Olympiastadt rollt.

Auch das „World Shakespeare Festival“ gehört dazu. Im Globe Theatre wurden bereits alle Stücke Shakespeares in Dutzenden von Sprachen aufgeführt, King Lear in Belarussisch, Romeo und Julia von einer irakischen Truppe, Irrungen Wirrungen in Taubstummensprache. Das British Museum zeigt in einer großartigen Ausstellung, wie in Shakespeares Stücken die Welt wahrgenommen wird, die damals gerade als Kugel entdeckt wurde. Shakespeare geht zwar von der englischen Tudorgeschichte aus, aber seine Folie ist die Befragung des Fremden. Sir Francis Drake war gerade von seiner Weltumsegelung zurückgekehrt, erstmals kamen auch Schwarze und Asiaten nach London. Der universale Blick Shakespeares macht ihn zum bekanntesten Exportartikel der Engländer.

Venedig, die weltläufigste, modischste, selbstbewussteste und multikulturellste Stadt der Epoche, wird in „Othello“ und dem „Kaufmann von Venedig“ eine Spiegelung Londons, das sich damals auf dem Weg zur globalen Metropole befand. Die venezianischen Stücke ziehen dem christlich-europäischen Selbstbewusstein zum ersten Mal eine Grenze und zeigen, etwa in der Figur Shylocks, dass auch jenseits dieser Grenze Humanität möglich ist. Das Fremde, die weite Welt, stellte gerade für Londoner nie eine Bedrohung dar, sondern war Bereicherung. Genau diese eigene Weltoffenheit feiert nun das Land auch bei den Olympischen Spielen mit Fackelprozession, Musik, Theater, Shakespeare und nicht zuletzt Tizian. Matthias Thibaut

National Gallery London, bis 23. September.

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