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Kultur: Verlieren und Wiederfinden: Neues von Eric Dolphy und dem Mahavishnu Orchestra

Wenn Platten veröffentlicht werden, die eigentlich vor Jahrzehnten hätten erscheinen sollen, werden wir manchmal gewahr, dass die Pop- und Jazz-Geschichte eigentlich auch ganz anders hätte verlaufen können. "The Lost Trident Sessions" ist ein eher unfreiwilliger Blick in die Geschichte des Mahavishnu Orchestras.

Wenn Platten veröffentlicht werden, die eigentlich vor Jahrzehnten hätten erscheinen sollen, werden wir manchmal gewahr, dass die Pop- und Jazz-Geschichte eigentlich auch ganz anders hätte verlaufen können. "The Lost Trident Sessions" ist ein eher unfreiwilliger Blick in die Geschichte des Mahavishnu Orchestras. Auch wenn der Titel anderes suggeriert, sind die verlorenen Trident-Aufnahmen eine 1973 komplett aufgenommene, von den Künstlern autorisierte und in der heute zu hörenden Weise konzipierte Studio-LP der wohl einflussreichsten Jazzrock-Band der frühen Siebziger. Das einzig wahre Mahavishnu Orchestra mit John McLaughlin, Jan Hammer, Rick Laird, Jerry Goodman und Billy Cobham hämmert und fiedelt sich in Räume unvorstellbarer Dimensionen. Selten ist Poesie zu solcher Atemlosigkeit gesteigert worden. Wie mit dem Album verfahren wurde, spricht allerdings Bände vom Umgang der Plattenfirmen mit dem kreativen Material ihrer Künstler. Niemand traf die bewusste Entscheidung, diese Aufnahmen für ein viertel Jahrhundert aufs Trockendock zu legen. Sie verschwanden einfach, keiner scherte sich darum. John McLaughlin konnte gar nicht genug über den Verlust dieses Juwels lamentieren. Wie Recht er hatte, wissen wir jetzt. Star-Produzent Bob Belden war es, dem bei der Pirsch nach apokryphem Miles-Davis-Material ein unbeschriftetes Master-Band in die Hand fiel. Als er es auflegte, traute er seinen Ohren nicht. Vielleicht wäre die Mutter aller Jazz-Rock-Bands nicht auseinander gebrochen, wäre dieses einzigartige Dokument nicht verschlampt worden.

Noch zehn Jahre weiter reicht Eric Dolphys "Illinois Concert" zurück. 1963 aufgenommen, war es niemals bestimmt, als Platte oder CD das Licht der Welt zu erblicken. Es war nichts als ein unter den damaligen technischen Gegebenheiten mitgeschnittenes Konzert. Im Gegensatz zu McLaughlin wurde Dolphy zu Lebzeiten nie die Anerkennung zuteil, die er verdient hätte. Hören wir heute diese Stunde aus dem Leben eines der bedeutendsten Bläser des 20. Jahrhunderts, erscheint es unfassbar, zu welcher Intensität, Leidenschaft und Unabhängigkeit dieser Musiker schon vor 36 Jahren in der Lage war. Dolphy gilt als Wegbereiter des Free Jazz. Dabei war er bereits dessen Überwinder. Er brauchte nicht die absolute formale Ungebundenheit, um alle Fesseln abzuwerfen. Niemand blies jemals wieder ein Solo auf der Bassklarinette wie Eric Dolphy in "God Bless The Child". Nie wieder bearbeitete Herbie Hancock seine Tasten so rücksichtslos und selbstvergessen. Die Klangqualität des Albums konvergiert gegen unvertretbar. Dolphys Flöte in "South Street Exit" wird von undefinierbarem Rauschen weggespült, und doch stört uns das überhaupt nicht. Die Energie, der Informationsgehalt der Musik überträgt sich trotzdem.

Ist all unsere Hifi-Besessenheit nur ein Alibi? Neigen wir dazu, fehlende Inhalte durch perfekten Sound auszugleichen? Mit seinen oft unvermittelten Sprüngen und dem allzeit spürbaren Anspruch, hinter die innersten Geheimnisse, den Spirit einer Melodie zu dringen, zeigt Eric Dolphy uns, was Jazz wirklich vermag.Eric Dolphy, The Illinois Concert, Blue Note / EMI. - Mahavishnu Orchestra, The Lost Trident Sessions, Columbia Legacy.

Wolf Kampmann

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