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Kultur: Vermehrt euch!

Es gibt Filme, die gefallen einem, man schnieft sogar drei Tränchen weg. Wenn das Licht im Kino angeht, fühlt man sich erhellt und geläutert.

Es gibt Filme, die gefallen einem, man schnieft sogar drei Tränchen weg. Wenn das Licht im Kino angeht, fühlt man sich erhellt und geläutert. Und nach drei Stunden hat man vergessen, worum es ging. So ähnlich ist es mit „Empört euch!“. Der vor wenigen Monaten erschienene Text des greisen französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel taugt als universeller Demo-Schlachtruf – und liest sich praktischerweise in einer knappen Stunde weg. Diese Mischung scheint gut anzukommen, schon jetzt hat sich das Pamphlet allein in Deutschland 400 000 Mal verkauft. Grund genug für den Ullstein Verlag, aus dem Essay umgehend eine Essayreihe zu machen.

„Vernetzt euch!“ heißt der gerade erschienene Band zwei. Diesmal spricht eine junge Frau, laut Verlag „die mutigste Bloggerin der Welt“. Lina Ben Mhenni ist 27 Jahre alt, arbeitet an der Uni Tunis und hat die Jasminrevolution im Januar nicht nur hautnah erlebt, sondern an vielen Kundgebungen aktiv mitgewirkt. Auch indem sie unentwegt Aufrufe, Videos und Augenzeugenberichte im Internet veröffentlichte.

Die Ereignisse dieser Tage schildert sie nun auf knapp 40 Seiten. Aber was ein berührender, subjektiver Bericht sein könnte, ist nur ein holpriger Schulaufsatz geworden. Einzig Ben Mhennis Blogeinträge von damals lassen etwas von der Wut, dem Kampfgeist, auch dem Pathos der Demonstranten erahnen. In der Nacherzählung dagegen reihen sich phrasenhafte Beschreibungen an seltsame Selbstreflexionen: „Wir schrieben pausenlos. Darüber vergaß ich mich selbst, hörte auf mich zu schminken, mir die Augenbrauen zu zupfen. Zum Glück waren die Nachbarinnen zur Stelle, um sich um unser Aussehen und Wohlergehen zu kümmern."

Um stilistischen Feinschliff geht es bei solchen verlegerischen Schnellschüssen natürlich nicht. Eher um die plakative Botschaft. Die der Bloggerin ist klar: Twitter half, die Massen zu mobilisieren, das „besonders magische“ Netzwerk Facebook diente der Opposition als Schaltzentrale. So weit, so bekannt. Die politischen Visionen der jungen Frau bleiben dagegen vage. Irgendwie eine „herrschaftsfreie Welt“ – und freier Zugang zum Internet.

Mit den Forderungen von Bestsellerautor Hessel deckt sich das kaum. Im Gegenteil, er ruft im letzten Absatz von „Empört euch!“ sogar ausdrücklich zu einem Aufstand gegen „die Massenkommunikationsmittel“ auf, „die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum.“ Aber vielleicht meint er damit ja auch nur das Privatfernsehen, zum Glück bleibt das angenehm undifferenziert. Genau wie der Wunsch von Lina Ben Mhenni, auch in Zukunft „die Wahrheit“ verbreiten zu dürfen.

Apropos: In den kommenden Tage erscheint Band drei, „Engagiert euch!“, wieder von Stéphane Hessel. Die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen, hier schon mal ein paar Vorschläge: „Wehrt euch!“, „Beschwert euch!“. Und fürs Weihnachtsgeschäft: „Vermehrt euch!“

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