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Kultur: Verse für alle

Poesiepassion: 20 Jahre Literaturwerkstatt Berlin

Von Gregor Dotzauer

Wie fern sind die Zeiten, als die Berliner Literaturwerkstatt noch in der ehemaligen Villa von Otto Grotewohl am Majakowskiring residierte. Die 20 Jahre, in denen sie von Pankow nach Mitte vorrückte, wo sie heute auf dem Gelände der Kulturbrauerei zu finden ist, spiegeln nicht nur eine Verlagerung hin zur Lyrik. Sie umfassen auch einen Epochensprung von einer analog verbreiteten Dichtung zu einer digitalen. Wie keine andere städtisch geförderte Kultureinrichtung widmet sich die Literaturwerkstatt dem Trans- und Multimedialen der Poesie. Die seit 1999 bestehende Plattform lyrikline.org, die im Moment 770 Dichter in 55 Sprachen präsentiert, ist dafür nur das international hör- und sichtbarste Zeichen – und zugleich der Brückenschlag zu der neuen Oralität, die der unermüdliche Direktor Thomas Wohlfahrt und seine Stellvertreterin Christiane Lange als Wesensmerkmal der zeitgenössischen Poesie in Anspruch nehmen.

Denn weit über die Lyrikline hinaus kann man die Rede von der Vernetzung der Szene wörtlich nehmen. Die Literaturwerkstatt ist mit Sicherheit das Energiezentrum jener jungen deutschen Szene, die sich mit der Anthologie „Lyrik von jetzt“ 2004 ihr Gründungsmanifest schenkte. Doch sie wäre es wahrscheinlich nicht geworden, wenn sich mit dem Internet nicht eine Infrastruktur ausgebildet hätte, die es einer ganzen Generation von Dichtern ermöglichte, sich als kollektives Phänomen gewissermaßen selbst hervorzubringen – und Kontakte in alle Welt wieder aufzunehmen, die selbst im Fall scheinbar so vertrauter Länder wie Amerika seit Langem verschüttet waren.

So hat das Haus, dessen Spielstätte nur rund 80 Besuchern Platz bietet, mit Fleiß, Geschick und Leidenschaft die Rolle einer Kleinkunstbühne gesprengt, indem es allsommerlich mit einem großen Zirkus, dem Poesiefestival, aufwartet, mit dem Open Mike einen in der Verlagsbranche angesehenen Talentwettbewerb eingerichtet hat, und während des Jahres eine Vielzahl von fahrenden Geschäften unterhält wie das in alle Welt ausschwärmende ZEBRA Poetry Film Festival.

Zum Geburtstag, der sich nun zum 20. Mal jährt, träumt die Literaturwerkstatt wieder einmal davon, endlich zu einem nationalen Zentrum der Poesie nobilitiert zu werden, das die Entwicklung der deutschsprachigen Lyrik in den letzten Jahrzehnten dokumentiert, aufbereitet und vermittelt. Ein solches Zentrum ist wünschenswert, fällt aber auch nicht so vom Himmel, wie es von allein aus dem Boden der Kulturbrauerei emporwächst.

Mit Berliner Mitteln allein lässt es sich ohnehin nicht einrichten, weshalb Thomas Wohlfahrt seit Jahren um Zusagen des Bundes kämpft. Neben der Frage, wie dies die Kräfte im fragilen Gleichgewicht der Berliner Literaturinstitutionen verschieben würde, sind – finanziell wie konzeptionell – enorme archivalische und wissenschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Denn die Chance einer solchen Gründung kommt nur einmal. Der Literaturwerkstatt ist dabei vor allem ein gestärkter Sinn für die Möglichkeiten geschriebener Poesie jenseits des Performativen zu wünschen. Denn den Spaß an Lautpoesie und musikalischen Formen zu vermitteln, ist einfach. Jemandem den wert lesender Versenkung beizubringen und die existenzielle Kraft einer spröden Zeile auszudeuten, ist schwieriger, aber genauso wichtig. Gregor Dotzauer

Die Literaturwerkstatt Berlin feiert am Sonnabend, 17.9., ab 14 Uhr mit dem Open-Air-Fest „Dichter dran“ in der Kulturbrauerei (Schönhauser Allee 36). Neben einem Beschwerdechor (siehe Seite 27) wird „Das große Berlin-Gedicht“ aufgeführt. 75 Stimmen deklamieren Texte aus den zwölf Bezirken. Außerdem gibt es „Poesiesprechstunden“, einen Poetry Slam, Poesieinstallationen, Popkonzerte und ein Kinderprogramm. Der Eintritt ist frei.

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