zum Hauptinhalt
Tränen einer Abtreibungsbefürworterin.

© OLIVIER DOULIERY / AFP

Verstoßen Abtreibungsverbote gegen die Religionsfreiheit?: Ein Dokumentarfilm bereichert die US-Debatte

In „Under G-d“ wird das Engagement für Abtreibungsrechte mit dem Thema Religionsfreiheit verbunden. Das birgt Sprengkraft. Juden, Muslime und Buddhisten ziehen vereint vor Gericht.

Elly Cohen hat abgetrieben. Der Fötus, mit dem sie schwanger war, hatte einen sehr seltenen genetischen Defekt. Falls es überhaupt zu einer Geburt gekommen wäre, hätte das Kind laut Diagnose nur kurze Zeit leben können. Deshalb entschied sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch.

Elly Cohen war mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter vor kurzem in den US-Bundesstaat Indiana gezogen. Dort war im Sommer 2022 ein strenges, fast totales Abtreibungsverbotsgesetz erlassen worden. Sie würde gerne wieder schwanger werden, sagt die Frau, doch nun habe sie Angst. Sollte es erneut zu Komplikationen kommen, dürfte sie in Indiana nicht abtreiben.

Elly Cohen ist Jüdin. Im Judentum wie im Islam und Buddhismus gilt ein Embryo ab seinem 40. Tag als Mensch. Das geht auf Aristoteles zurück, für den das zentrale Kriterium der Zeitpunkt der ersten Bewegung des Embryos im Mutterleib war. In diesen Religionen wird der Schutz des mütterlichen Lebens vor den eines Ungeborenen gestellt.

Jüdische Frauen würden den Regeln eines anderen Glaubens unterworfen

Deshalb sieht Elly Cohen ihre Religionsfreiheit verletzt. In Indiana würden jüdische Frauen den Regeln eines anderen Glaubens unterworfen, sagt sie, „darüber rege ich mich sehr auf“. Gemeint ist eine konservative Interpretation der christlichen Lehre, wie sie Katholiken und rechtsevangelikale Protestanten vertreten. Für sie beginnt menschliches Leben – ausgestattet mit allen individuellen Schutzrechten – wenn Ei und Samen miteinander verschmelzen.

Mit der Geschichte der Familie Cohen beginnt der Dokumentarfilm „Under G-d“, der im Januar zum ersten Mal beim Sundance Film Festival gezeigt worden war, punktgenau zum 50. Jahrestag der „Roe v. Wade“-Entscheidung des Obersten amerikanischen Verfassungsgerichts, das ein Recht auf Abtreibung verankert hatte. Dieses Recht wurde im Juni 2022 im „Dobbs v. Jackson“-Urteil vom mehrheitlich konservativ besetzten Supreme Court ausgehebelt. Seitdem tobt in den USA ein Kulturkampf um Abtreibungsrechte.

Von Seiten der Abtreibungsgegner wird dieser Kampf traditionell mit religiösen Argumenten geführt. Ein Schwangerschaftsabbruch verstoße gegen christliche Gebote, heißt es. Floridas erzkonservativer Gouverneur Ron DeSantis hat das strenge Abtreibungsverbotsgesetz seines Bundesstaates in einer Kirche präsentiert.

Im Mittelpunkt stehen zwei juristische Grundsätze

Paula Eiselt, die Regisseurin von „Under G-d“, ist selbst Jüdin und vierfache Mutter. In ihrem 23 Minuten langen Film, der jetzt zum ersten Mal im öffentlich-rechtlichen TV-Sender PBS gezeigt wurde, verbindet sie das Engagement für Abtreibungsrechte mit dem Thema Religionsfreiheit. Das ist neu und birgt Sprengkraft. Durch Anti-Abtreibungsgesetze würden die Rechte jüdischer, islamischer und buddhistischer Frauen verletzt, argumentieren die Kläger. Das wiederum behindere deren freie Religionsausübung.

Im Mittelpunkt ihrer Argumentation stehen zwei juristische Grundsätze. Der erste Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung garantiert die Religionsfreiheit und verbietet die Einführung einer Staatsreligion und die Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Religionen.

Noch brisanter ist das Gesetz zur Wiederherstellung der Religionsfreiheit von 1993 („Religious Freedom Restoration Act“). Es verbietet „jeder Behörde, Abteilung und jedem Beamten der Vereinigten Staaten oder eines Bundesstaates, die Religionsausübung einer Person erheblich zu belasten, selbst wenn die Belastung aus einer allgemein anwendbaren Vorschrift resultiert“. Mit anderen Worten: Der Staat muss ein zwingendes Interesse nachweisen, um die Religionsausübung einer Person einschränken zu dürfen.

Das könne er nicht, sagen die Protagonisten des Films, der inzwischen auch frei auf Youtube zu sehen ist. In mehreren Bundesstaaten haben daher jüdische Organisationen – gemeinsam mit islamischen und buddhistischen Gemeinden – Klagen gegen rigide Anti-Abtreibungsgesetze eingereicht. In Indiana gab den Klägern ein Gericht am 2. Dezember 2022 zum ersten Mal im Grundsatz Recht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false