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Kultur: Verurteilen Sie selbst!

Kunst oder Show? Heute wird in London zum 20. Mal der Turner-Preis verliehen

Wie in jedem Jahr schreiben die Wettbüros wieder ihre Quoten auf Kreidetafeln: Am heutigen Sonntagabend wird in London zum 20. Mal der Turnerpreis verliehen. Jake und Dino Chapman mit ihrer Fellatio Puppe führen mit 6 zu 4, dicht gefolgt von der Töpferware Grayson „Claire“ Perrys. Auf dem dritten Platz liegen die faulen Äpfel von Anya Gallaccio und das Verfolgungsvideo von Willie Doherty. Der Turner-Preis ist wie ein Pferderennen: das Epsom Derby für die Kunstszene.

Zwar bleiben die Gewinnregeln den meisten ein Rätsel. Umso eifriger wird über Sammler, Galeristen und Juroren geklatscht wie über Jockeys, Trainer und Pferdebesitzer. Mit den fast hysterischen Erwartungen, die sich in den 20 Jahren seiner Geschichte an den Preis geheftet haben, wurde jene Art von Aufmerksamkeit geschaffen, die für die Reputation der Künstlers heute so wichtig ist: Der Turner Preis macht aus Künstlern Stars. Man muss nicht einmal gewinnen. Tracey Emin zum Beispiel ist eine berühmte Künstlerin, seit sie bei einer Verleihung betrunken war. Und auch die „Sun“, die als Boulevardblatt an Kunst eigentlich kein Interesse hat, wird heute einen Reporter schicken.

„Judge for yourself", steht dieses Jahr auf dem Einladungsplakat. Am Eingang der Londoner Tate Modern wird vor expliziten Exponaten gewarnt, Pädagogen mögen sich bitte beim Museumspersonal melden. Dann vier Räume Kunst. Vier Kurzvideos. Und die Bitte, Kommentare auf weiße Karten zu schreiben.

Hätte das Publikum etwas zu sagen, würde Grayson Perry der Sieger. Seine Lüstervasen verbreiten kunsthandwerkliche Wärme, Vitrinen sorgen für museale Glaubwürdigkeit. Mit gekrümmtem Kopf entziffert man Szenen aus dem neurotischen Familienleben. Mord- und Sexgeschichten aus den Reihenhäusern, die der Töpfer in dichter Kritzelzeichung, mit Abziehbildern, Fotos und kostbaren Glasuren auf die Vasenbäuche gebracht hat. Ob Perry zur Preisverleihung als Grayson oder als Claire erscheinen wird? Erst des Künstlers Doppelleben als Transvestit gibt der Verbindung von Dekoration und Polemik autobiografische Glaubwürdigkeit. Sein „Coming Out“-Kleid im Alice-in-Wonderland-Stil drückt den Vasen erst das Gütesiegel biografischer Authentizität auf. So haben wir uns Kunst immer gewünscht.

Will Doherty ist dagegen ein kühler Charakter. Der Kunstdozent aus Belfast arbeitet sich an der Geografie des Nordirlandkonflikts ab – ein Realitätsbezug, der in der zunehmend beliebigen Konzeptwelt einer modernen Galerie fast schockierend ist. Seine Arbeit „Re-Run“ stellt den Betrachter zwischen zwei Videoleinwände, auf denen ein Mann, Verfolger und Verfolgter zugleich, über die Craigavon Brücke in Londonderry rennt, die katholische und protestantische Kommunen trennt – und verbindet.

Kandidatin Anya Galaccio bezieht das rigorose Koordinatensystem ihrer Kunst aus dem Verfalls- und Verformungsprozess der Natur. Rote Äpfel hängen an einem Bronzebaum und verfaulen langsam – ein Vanitas-Stillleben als tableau vivant. Hübsch anzusehen. Bleiben Jake und Dinos Chapman. Das Bezugssystem der Brüder ist die Kunstgeschichte und die Überzeugung, dass Kunst kein angenehmes Vergnügen sein darf. Einmal mehr greifen sie auf Goyas „Schrecken des Krieges“ zurück und haben die Radierserie mit feinen Mickymaus-Köpfen übermalt – eine „Schändung“, die den Preis des Goya-Portfolios vervielfacht hat. Aber nicht nur der Marktwert Goyas, auch der Schrecken seines Kriegsberichts ist damit gesteigert. Nach der Dramaturgie des Turner-Preises sind die Chapman-Brüder als Schockspezialisten gebucht. Sie nehmen ihre Aufgabe ernst, und dennoch will keine rechte Entrüstung über ihre Sexgummipuppen aufkommen. Faszinierend, wie täuschend die luftige Leichtigkeit einer Aufblaspuppe im Bronzeguss erhalten bleibt – die Transporteure der Londoner Tate Modern verrenkten sich beim Anheben das Kreuz. Der Schock des Sehens aber, auf den die Chapmans setzen, findet nur noch in den Medien statt.

Das ist das Verhängnis des Preises. Je mehr er mit dem Rummel um ihn identisch wurde, desto mehr verliert er an Bedeutung. Er ist „Celebrity Kunst“, die so virtuell rezipiert wird wie die Eintagsfliegen der Superstar-Shows. Die Kunst selbst wird dieser Wahrnehmung immer fremder. Die Aufgabe des Turner-Preises war es einmal, dem Neuen auch bei den traditionsliebenden Briten Bahn zu brechen. Nun hat die Übersteigerung der Erwartungen dem Preis seinen Sinn und seine Wirkung genommen.

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