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Der Tag hat 24 Stunden. Dann kommt die Nacht: Songs zum „Ausbrennen“. Foto: Ludwig

© Gerhard F. Ludwig_fotofisch-berl

Kultur: Verwerte deine Tugend

Das Off-Theater-Festival „Freischwimmer“ in den Berliner Sophiensälen.

King Kong ist müde. Er sitzt zwischen den Wolkenkratzern und sinniert über seine Sisyphusarbeit. Lohnt sich die Zerstörung überhaupt? Wo doch die kleinen, emsigen Menschen die pulverisierten Häuser immer wieder aufbauen. Und alles von vorne losgeht. Fenster zerschlagen, Helikopter zerquetschen, Menschen fressen. Ein Knochenjob, findet der reflektierte Affe, der sich zu Recht als Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen definiert. Er hätte nicht übel Lust, alles hinzuschmeißen. King Kong ist vom akuten Erschöpfungssyndrom bedroht.

„Ausbrennen“ heißt folgerichtig das Denk-Konzert, das Luise Voigt in den Sophiensälen eingerichtet hat. Es ist der Auftakt des Freischwimmer-Festivals, dieser Performance-Allianz der freien Szene mit sieben Uraufführungen. Nach der Berliner Premiere reisen die Produktionen weiter ins Wiener Brut, danach stehen die Züricher Gessnerallee, der Frankfurter Mousonturm, schließlich FFT Düsseldorf und Kampnagel Hamburg auf dem Programm. Jedes Haus steuert eine Inszenierung bei, das Oberthema in diesem Jahr ist die klangvolle Aufforderung: „Verwerte dich!“

Was, wie die Festivaldramaturgin Christiane Kretschmer betont, nicht allein auf den neoliberalen Befehl zur totalen Selbstvermarktung zielt. Oder auf den Künstler als Modell für den modernen, flexiblen Ich-Arbeiter. Sondern eine Vielzahl von Interpretationen zulässt. Auch positive. Jeder Künstler verwertet schließlich, was ihm in seinem sogenannten Alltagsleben widerfährt.

In „Ausbrennen“ sitzen die Performer nach der Gorilla-Eröffnung im Halbkreis an Tischen vor ihren Computern. Ab und zu singen sie ein Lied über Selbstoptimierungs-Strategien, oder sie erörtern die Überforderung in all ihren schillernden Facetten. Einer zitiert die protestantische Arbeitsmoral seines Vaters: „Der Tag hat 24 Stunden, und wenn die nicht reichen, muss man eben die Nacht dazunehmen.“ Ob da die versprochene Anti-Burnout-App hilft? Was Voigt hier inszeniert, ist der State-of-the-Art einer Kreativszene, die mit ironieleeren Händen vor der eigenen Situation steht. Bedroht von ökonomischer wie geistiger Armut.

Der Künstler Joonas Lahtinen lässt in der Kantine der Sophiensäle die Frankfurter Küche der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky auferstehen, die Mutter aller Einbauküchen aus dem Jahr 1926. Erfunden zur Erleichterung des Hausfrauenlebens auf 1,20 Meter von Zeile zu Zeile. Darin werden während des Festivals Diskurs-Süpplein gekocht. Die Gruppe Thom Truong will dagegen Privatunternehmern mit Weltverbesserungsanspruch die Bühne bereiten, sogenannten Social Entrepreneurs, die das Publikum von ihren Ideen überzeugen sollen: „Invest in me!“. Die Verwertungsgedanken sind frei, das Thema ist grenzenlos.

Großartig wird es dort, wo das Künstler-Ego zugunsten einer höheren Mission zurücktritt. Das Hildesheimer Performance-Duo Markus & Markus – zuletzt beim Stückemarkt des Theatertreffens vertreten – setzt mit „Polis3000: Oratorio“ seine Reihe der Agitprop-Attacken auf die institutionalisierte Unmündigkeit fort. Und nimmt die Kirche, den Papst und das allerheiligste Geld ins Gebet. Das Evangelium nach Markus & Markus ist eine ketzerische Brandrede wider die Bigotterie, ein Exorzismus der falschen Frömmigkeit. Im sprühenden Assoziationsfuror packen die beiden auf ihren Performance-Altar, was das Schwarzbuch Religion nur hergibt. Wie in ihrer Arbeit „Polis3000: Autonomia“, die unter anderem den Hildesheimer Ehrendoktor Carsten Maschmeyer ins Visier nahm, spielen Markus Wenzel und Markus Schäfer dabei nie die megafonbewehrten Heilsbringer eines besserwissenden Aufklärungstheaters. Der Gestus: Folget uns nicht! Zwischen Polemik und Enthüllung, Fake und Fakten muss im Weihrauchnebel jeder Theatergänger selbst sortieren. Zwar sind Markus & Markus Heilige. Aber den Titel haben sie sich für 58 Euro bei einer gewissen Prixton Church gekauft, wie Urkunden an der Wand belegen.

Die beiden machen sich angreifbar, bringen den Körper ein bis über die Schmerzgrenze hinaus. Ein wildes, unberechenbares Theater. Der Abend mag keine Offenbarung sein. Aber er gibt einem den Glauben an die Kraft und Lebendigkeit der freien Szene zurück. Fürchtet euch nicht, verwertet euch!

Noch bis zum 4. November,, www.sophiensaele.de

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